Kalte Wut
An der Wand eines Hauses war eine steinerne Plakette angebracht, und Newman blieb stehen, um sie sich genauer anzusehen. Auf ihr stand der Name eines Schuldirektors und das Datum 7. Juni 1874. Sie gingen weiter die Straße entlang.
Aus einem der Häuser kam eine in Pelz gekleidete Gestalt zum Vorschein. Newman hatte bereits seinen Smith & Wesson in der Hand, als er Ziggy Palewski erkannte.
In dem bescheiden eingerichteten Zimmer des Journalisten im ersten Stock umarmten sich Palewski und Newman; beide freuten sich über das Wiedersehen.
»Willkommen, mein Freund«, sagte Palewski auf Englisch.
»Und Mr. Cardon und ich sind uns schon mehrmals begegnet.
Kaffee?«
»Vielen Dank«, sagte Newman, »aber so viel Zeit haben wir nicht.«
Er saß zusammen mit Philip auf einer schäbigen Couch, während Palewski sich in einem alten Schaukelstuhl niedergelassen hatte. Bescheiden, aber sauber und ordentlich, erkannte Newman nach einem Rundblick durch das Zimmer.
»Ich habe Sie von meinem Fenster aus gesehen«, sagte Palewski. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
»Ja«, sagte Newman. »Bisher haben wir noch keine Spur von Walvis’ Gangstern gesehen, was ich verwunderlich finde. Ich hatte gedacht, es würde hier nur so von ihnen wimmeln. Von diesem Fenster aus …«
»Ich habe gleichfalls keinen von ihnen gesehen. Und auch ich finde es verwunderlich. Es ist gerade so, als plante Walvis etwas Großes und hätte deshalb seine Männer aus der Stadt abgezogen.
Außer einem. Lucien …«
»Lucien?« Philip beugte sich vor. »Sie haben ihn heute gesehen?«
»Nein. Aber gestern abend – nachdem Sie mir das Leben gerettet hatten – bin ich hierher zurückgekehrt. Ich hatte kein Licht gemacht, und als ich aus dem Fenster sah, habe ich ihn kurz im Licht einer Straßenlaterne gesehen. Er lief auf den Domplatz zu, ohne sich umzusehen, wie eine Ratte, die in ihren Bau zurückkehrt. Ich bin ziemlich sicher, daß er hier in Salzburg einen geheimen Unterschlupf hat.«
»Besteht irgendeine Aussicht, daß Sie heute vormittag im Cafe Sigrist anzutreffen sind?« fragte Newman. »Tweed liegt sehr viel daran, Sie zu sehen.«
»Ich werde zwischen zehn und elf dort sein. Es gibt eine Menge Dinge, die Ihr Mr. Tweed wissen sollte, bevor diese Gangster mich umbringen.«
»Das wird hoffentlich nie passieren«, sagte Newman im Aufstehen.
»Danke, mein Freund. Aber meine Zeit ist fast um. Und ich bin sicher, daß der Artikel für den
Spiegel,
den ich im Kopf habe, nie erscheinen wird. Ein anderer wird Walvis das Handwerk legen müssen …«
Obwohl Philip jünger war, brachte ihn Newman außer Atem, als er jede Straße, jeden Platz und jede Gasse durcheilte und sich in Gedanken ein vollständiges Bild von der gesamten Altstadt machte. Schließlich waren sie unterhalb der Festung angelangt, die die Altstadt überragte.
»Wir fahren mit der Bahn hinauf«, beschloß Newman.
Philip kaufte die Karten, und sie waren die einzigen beiden Passagiere in der Kabine, die auf den steilen Schienen immer höher und höher hinaufkletterte. Auf halber Höhe gab es, wie üblich, eine Ausweichstelle für die bergab fahrende Kabine, die völlig leer war.
Beim Aussteigen aus der Kabine traf sie ein eisiger Wind, und es schien sogar noch kälter zu sein. Newman war verblüfft über die Höhe der geräumigen Plattform, von der aus man fast senkrecht in die Altstadt hinabsehen konnte. Es war fast so, als schaute man von einem Flugzeug aus herunter. Die Steinmauer, über die er hinwegsah, war hoch, und unterhalb von ihr fiel der Felsen steil ab.
Dann drehte sich Newman um und wanderte zu der Festung hinüber, bis er am Fuß eines gewaltigen Turms stand. Er schaute an der runden, hoch aufragenden Mauer empor.
»Das ist der Reckturm«, sagte Philip. »Als ich das erstemal hier oben war, habe ich mich kurz mit dem Fahrer der Seilbahn unterhalten.«
Newman betrachtete die an der Basis des Turms eingemeißelte Inschrift.
Reckturm 1496.
»Der steht schon seit etlichen Jahren hier«, bemerkte er. »Ich glaube, ich habe alles gesehen, was ich sehen mußte.«
In der Ferne ragten gewaltige, zerklüftete, mit Schnee und Eis bedeckte Berggipfel auf. Es war der grandioseste Ausblick, den Newman je erlebt hatte. Auch in der bergab fahrenden Kabine waren sie die einzigen Passagiere, und Newman machte Philip gegenüber eine entsprechende Bemerkung.
»Im Dezember gibt es hier keine Touristen«, erklärte Philip.
»Und an einem so eiskalten Tag gehen die
Weitere Kostenlose Bücher