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Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten

Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten

Titel: Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Toporski
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besonders schöne Späne mit in den Kohlenkeller. Wir basteln uns dann Puppen oder Tiere daraus oder legen sie einfach zu Mustern zusammen. Tagsüber gebe ich manchmal Janusz einen zum Spielen. Der steckt ihn dann in den Mund und kaut so lange darauf herum, bis das Holz zerbröselt und er sich abmühen muss, die vielen Fasern mit seiner kleinen Zunge aus dem Mund zu schieben und auszuspucken.
    Schön, dass ich hier sein kann! Michał und Władka sind fast so etwas wie zweite Eltern für mich. Klar: Mama bleibt Mama. Aber ich bin in dieser kleinen Familie heimisch, als hätte ich immer dazugehört. Und das geht nicht nur mir so.
    »Du bist für Janusz eine richtige große Schwester«, meint Władka.
    »Ich hab ja auch genug Geschwister zum Üben gehabt.«
    Sie seufzt und fragt dann: »Gehabt, ja! Wisst ihr eigentlich etwas von euren Kleinen?«
    Ich schüttele nur den Kopf. Auf einmal kann ich nicht mehr reden. Schlagartig kommen alle Erinnerungen hoch: Elsbeth, die Nächste nach mir, mit der ich viel gespielt und gestritten habe, oder Michi, der sich immer so geduldig Zöpfe ins Haar flechten ließ, und Walter, den wir noch getauft haben, ehe sie dann alle aufgebrochen sind. Ich rechne nach, wie alt er jetzt sein muss: bald drei Jahre! Mein Gott! Und ich kann ihn mir gar nicht anders vorstellen denn als Säugling!
    »Die sind gut angekommen, ganz bestimmt!« Natürlich hat Władka etwas gemerkt und versucht zu trösten. »Was weiß man heute schon von seinen Leuten, wenn sie nicht neben einem wohnen? Man erfährt ja nichts! Die Post funktioniert ja nicht einmal in Polen richtig. Und dann erst von Deutschland...«
    Ich nicke nur.
    »Und vielleicht lassen sie euch ja auch bald gehen.«
    Ich habe Mühe, mir das vorzustellen. Wie würde das sein? Womit würden wir dann fahren? Etwa richtig mit dem Zug? Oder in Viehwagen, wie man jetzt oft hört? Vielleicht müssen wir auch zu Fuß gehen, wer weiß.
    Aber wohin würden wir eigentlich fahren? Was soll ich denn »Zuhause« nennen? Zuletzt war Waly mein Zuhause, nicht der Kohlenkeller, sondern unser Hof. Davor waren wir in Mauer bei Hirschberg: Dahin zurück? – Da sind jetzt auch andere Leute! Vielleicht nach Stuttgart, wo die Patentante wohnt – aber diese Stadt kenne ich gar nicht. »Zu Hause« jedenfalls wäre ich da nicht.
    Komisch: Heimat ist für mich da, wo ich es gut habe. Im Augenblick ist das hier bei Władka und Michał.
     
    Władka ist zur Tür gegangen, es hat geklopft. Es kommen immer wieder mal Leute aus dem Dorf, die etwas reparieren lassen oder einfach mal einen Besuch abstatten wollen. Erst als ich lautes Stimmengewirr höre, das sich nach Streit anhört, werde ich stutzig. Ich lausche zur Tür hin, kann aber nichts verstehen, es wird zu schnell gesprochen und so viel Polnisch kann ich noch nicht. Aber am Tonfall erkenne ich die Gefahr!
    Mit Janusz auf dem Arm luge ich vorsichtig durch die halb offene Tür, wo im Flur Władka schimpfend und abwehrend auf einen Mann einredet, der im Eingang steht. Ich sehe die Uniformmütze auf seinem Kopf und weiß augenblicklich, dass es um mich geht!
    »Sie kommt mit und dabei bleibt’s!«, ruft der Milizmann.
    Er kommt auf mich zu und fasst nach meiner Hand. Ich reiße mich los und umklammere mit beiden Armen Janusz, als wäre er meine Rettung.
    »Mach keinen Ärger und komm mit«, sagt der Mann, fasst mich aber nicht wieder an. Vielleicht hat er Angst, dass ich Janusz fallen lasse.
    Władka bückt sich zu mir herunter, streicht mir über das Haar und versucht, mir die Tränen von den Wangen zu wischen.
    »Es wird auch dort gut sein, wo du jetzt hinkommst«, sagt sie, um mich aufzumuntern.
    Aber sie bewirkt das Gegenteil. Ihr Versuch, mich zu trösten, zeigt mir nur umso mehr, wie sehr ich hierher gehöre. Ich liebe Władka, liebe sie kaum weniger als Mama. Ich bin doch ihre große Tochter!
    Der Mann sagt etwas Ungeduldiges. Władka zischt ihm mit bösem Gesicht etwas zu. Aber dann nimmt sie mir Janusz aus den Armen. Etwas anderes bleibt ihr auch nicht übrig.
    »Aber Mama weiß doch gar nichts«, wende ich ein.
    Den Mann lässt das kalt. »Die wird das schon erfahren«, sagt er. »Jetzt mach, dass du fertig wirst!«
    Auf einmal fühle ich mich leer, ganz leer. Es ist, als ob in mir etwas ausgeschaltet, mein Gefühl erstickt worden wäre. Es gibt keine Freude mehr, aber eigentümlicherweise auch keinen Schmerz. Als wäre ich aus Stein. Ohne meine Seele, die sich tief in ein Schneckenhaus verkrochen hat, wo niemand

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