Kalter Amok
Haydon die Terrassentür aufschloß und hineinging in die große Diele, die quer durch das Haus bis zur Vorderfront verlief. Er nahm die Post von dem kleinen Tischchen in der Diele, wo Gabriela sie hingelegt hatte, und ging dann in die Küche. Auf einem Hackblock in der Mitte des quadratischen Raums stand ein Tablett, bedeckt mit einer gestärkten, weißen Leinenserviette. Haydon legte die Post und die Bougainvilleenblüten auf das Tablett, holte sich ein kleines Glas aus einem der Schränke und eine halbleere Flasche Chablis vom Weinregal und brachte dann alles hinüber in die Bibliothek. Dort stellte er das Tablett und das Glas auf einen Refektoriumstisch und öffnete die Türen, die von der Bibliothek auf die Terrasse führten. Dann trat er auf die Terrasse und füllte die kleine Schüssel, die neben Cincos Pfoten stand, mit Chablis. Die Rute des Collies bewegte sich in Vorfreude, ehe er den Wein zu schlabbern begann, ohne sich dabei auch nur aufzurichten. Haydon ging wieder hinein, nahm die Serviette vom Tablett und begann die rosa Krevetten zu schälen, die er, bevor er sie aß, in Gabrielas Remouladensauce tauchte.
Als er damit fertig war, lehnte er sich zurück, um die Post durchzugehen, während er gelegentlich an dem Wein nippte. Er fand einen großen Umschlag von seinem Anwalt. Es war Ende Juni; die Entscheidungen für das dritte Quartal mußten überdacht, Aktien neu bewertet und Finanzen arrangiert werden. Außerdem war eine Rechnung von Federico Sodi für die beiden letzten Anzüge gekommen und eine von der Gärtnerei für die neuen Sträucher, die Pablo bestellt hatte. Haydon starrte einen Moment auf die bunte Postkarte mit Kirschblüten, die sich in Tidal Basin spiegelten, mit dem Lincoln Memorial im Hintergrund. Er drehte sie um und sah, daß sie von Pearson stammte, einem Detektiv bei der Mordkommission, der diesmal schon früh Urlaub gemacht hatte und mit seiner Familie nach Washington gefahren war. Außerdem war ein Prospekt einer neuen Pizzeria in der Audubon Street gekommen und ein Brief von der Polizei in Baton Rouge.
Er legte die Post beiseite, ohne sie zu öffnen, und schaute hinaus auf die Terrasse, wo Cinco jetzt auf der obersten Stufe der Treppe lag. Der alte Hund hatte die Vorderpfoten in der aristokratischen Weise der Collies gekreuzt, und die Ohren waren ein wenig aufgestellt, während er ein Eichhörnchen auf dem darunterliegenden Rasen beobachtete. Das durchdringende, zugleich einschläfernde Zirpen der Grillen kam durch die offene Terrassentür wie die Seele des Sommers, uralt und zeitlos.
Haydon dachte über die Frage nach, die sowohl Hirsch als auch Mooney gestellt hatten, und warum er sie nicht beantwortet hatte. Aber ihm war erst seit kurzem klargeworden, was die Veränderung, die in den letzten sechs Monaten mit ihm vorgegangen war, bedeutete, und er wußte noch nicht, was er dagegen unternehmen sollte. Es war wirklich eine Schande. Er war verdrossen und wütend. Wenn ein Mann zum Klischee wurde, war das der endgültige Abstieg. Vielleicht in diesem Moment bereits ein Abstieg, der nicht mehr rückgängig zu machen war. Lange Zeit hatte Haydon es nicht glauben wollen. Er hätte eigentlich anders sein müssen, eine Ausnahme unter den stereotypen, zynischen Polizeibeamten.
Aber er hatte es sich schließlich eingestehen müssen: Nach elf Jahren waren seine Gefühle ausgebrannt. Es gab keine Überraschungen mehr für ihn, keine Wunder, Geheimnisse oder bestürzenden Enthüllungen. Es gab nur die erstickende, vorhersehbare Endgültigkeit des Lebens, die er in fatalistischer Weise bedauerte, was ihm albern vorkam in der Weise, wie sich ein unbelehrbarer Raucher vorkommen mußte, wenn man ihm sagte, daß er an Lungenkrebs sterben würde: keine Hoffnung, und niemand daran schuld außer ihm selbst. Sein Idealismus war gestorben. An seine Stelle war ein analytischer Blick getreten; er kam sich vor wie vom grünen oder grauen Star befallen, der seine Sicht verschleierte und seine Sensibilität vor der unnachgiebigen Bösartigkeit der anderen schützte, vor den Messerstechereien, den Schlägereien, den Vergewaltigungen und Verstümmelungen. Eine alles beherrschende Enttäuschung hatte von ihm Besitz ergriffen, eine Enttäuschung, die so schwer auf ihm lastete, daß sie alles andere ausschloß.
Als das Telefon klingelte, verließ er die Terrasse und ging zu dem Apparat, der auf einem Teetisch neben einem roten, ledernen Sessel stand.
»Ich habe eine Einladung zu einer Weinprobe heute
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