Kalter Amok
abend«, sagte eine Stimme. »Veranstalter ist die Stoffirma von Manuel Canovas. Punkt sieben. Wir könnten danach zu ›Bernie’s‹ zum Essen gehen. Ich wäre in der Stimmung für ›Bernie’s‹.«
Er stellte sich Nina vor, wie sie an ihrem Zeichenbrett stand, in ihrem Atelier in der Nähe der Universität. Ihr helles, zimtfarbenes Haar würde nach hinten frisiert sein wie bei Evita Perón, die Seidenärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, die Finger verschmiert mit den Pastelltönen der Buntstifte, während sie den Hörer mit einer Schulter ans Ohr klemmte und dabei weiterzeichnete, im Oberlicht des atriumartigen Raums. Das Nordlicht im Studio dieses Hauses wäre zu weich und zu schwach zum Arbeiten gewesen.
»Aber ›Bernie’s‹ erfordert eine gewisse Konzentration«, sagte er.
»Genau«, antwortete sie. »Die sollten wir genießen.«
»Ein besonderer Anlaß?«
»Ja. Wir.«
»Ich muß heute arbeiten.«
»Ach, ver–, das soll wohl ein Scherz sein.«
»Nein, es ist ernst.«
»Ein dringender Fall?«
»Nicht unbedingt.«
»Dann laß da doch jemand anders ran.«
»Kann ich nicht«, sagte er, was der Wahrheit entsprach. Aber abgesehen davon wollte er weder zu einer Weinprobe noch zu »Bernie’s« gehen. Er wußte, es war nichts Besonderes, kein Herzenswunsch von Nina. Sie versuchte nur, ihn auf sanfte Weise von zu Hause loszueisen.
»Vielleicht morgen abend«, sagte er und kam sich wie ein Schuft vor.
»Ja, vielleicht.« Ihre Stimme war ausdruckslos geworden, und er nahm an, daß sie mit dem Zeichnen aufgehört hatte und in das gleiche, schwächer werdende Licht hinausschaute, das er hinter der offenen Terrassentür sah.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Schau, es wird nicht länger als bis Mitternacht dauern. Geh doch allein; es bringt nichts, wenn du hier herumsitzt. Wenn ich fertig bin, trinken wir zusammen ein Glas und können miteinander reden. Okay?«
»Nein. Ich will nicht allein zu ›Bernie’s‹ gehen. Ich gehe zu der Weinprobe und besorge mir auf dem Nachhauseweg etwas zum Essen. Aber sieh zu, daß du vor Mitternacht zu Hause bist, ja?«
»Ich werde es versuchen«, sagte er. Dann legte er den Hörer auf und schaute sich in dem Raum mit den vielen Bücherregalen um. Es war ein großer Raum, der schönste im ganzen Haus. Die Gesetzesausgaben seines Vaters nahmen einen Großteil der Regale neben der Tür ein, die hinausging in die Diele des Westflügels. Wenn es nach Webster Haydon gegangen wäre, hätten die Gesetzbücher seines Sohnes einen ebenso großen Raum daneben beansprucht. Aber es war anders gekommen. Nach einem Jahr Jurastudium hatte sich Haydon entschlossen, Polizeibeamter zu werden. Ein Polizist mit einem Master-Diplom in englischer Literatur, was weit entfernt von den Vorstellungen seines Vaters gewesen war.
Als er sich zu einem anderen Beruf entschloß, hatte Haydon mit vier Generationen Familientradition gebrochen, aber es war eine Tradition, die schon sein Vater aufgeweicht hatte, als er als junger Mann Boston verlassen hatte, um sein Studium an der Columbia-Universität zu vollenden, statt in Harvard. Dann ging er, statt in die Familienfirma einzutreten, nach Großbritannien, um die englische Gesetzgebung zu studieren. Er heiratete eine Schottin, womit er die Träume seiner Familie zerstörte, die darauf abzielten, die Verbindungen in Boston zu stärken, und zog zuletzt auch noch nach Mexico City, um das mexikanische Rechtssystem zu studieren. Seine Familie hatte inzwischen die Hoffnung aufgegeben und konnte nur noch in familiärer Gemeinsamkeit die Köpfe schütteln, als er sich schließlich in der feucht-schwülen Golfstadt Houston niederließ. Das war Anfang der vierziger Jahre gewesen.
Rückblickend freilich schien Webster Haydon nur richtige Entschlüsse getroffen zu haben. Sein exzentrischer Intellekt und seine gesellschaftlichen Kontakte in Mexico City und Houston hatten es ihm ermöglicht, juristischer Berater der Ölmagnaten auf beiden Seiten der Grenze zu werden. Ganz nebenbei sammelte er ein gewaltiges Vermögen an. Ja, rückblickend war es eine brillant gesteuerte Karriere gewesen.
Aber Haydons völliger Verrat an der Tradition war zweifellos eine Enttäuschung gewesen, sogar für seinen Vater. Dennoch baute diese Enttäuschung keine Mauer auf zwischen Vater und Sohn. Der alte Herr erkannte zuviel von seiner eigenen, unabhängigen Denkweise bei seinem Sohn, als daß er sie für schlecht halten konnte. Er wurde nach und nach Haydons kreativer Helfer. In
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