Kalter Amok
sagen wollen, aber dann füllten sich ihre Augen unwillkürlich mit Tränen. Seine langen, schmalen Finger strichen über ihren Mund.
»Wir können später darüber reden«, sagte er, und sie schlang die Arme um ihn und zog ihn an sich. Sie lagen beieinander, sprachen kein Wort, tauschten aber ihre Gefühle in der Umarmung, während die Morgensonne durch das Zimmer wanderte und das Bett vergoldete.
Sie hatten auch danach nicht darüber geredet, nicht so, wie er es versprochen hatte. Sie erfuhr nie, was in diesen zwei Tagen geschehen war, oder an einem der anderen Tage in den folgenden Jahren, wenn er unerwartet verschwunden war und dann zurückkehrte, zu krank und ausgezehrt, um irgend etwas anderes tun zu können als die Sache auszuschlafen wie ein Betrunkener nach einem Riesenrausch. Aber das konnte nicht der Grund sein. Sie hatte längst erfahren, daß Haydon einen höchst empfindlichen Magen geerbt hatte, der es verhinderte, daß er zum Alkoholiker geworden wäre. Sein System rebellierte längst, bevor er so viel getrunken hatte, daß es ihm schadete. Er trank jeden Abend ein paar Glas Gin mit Zitronensaft, hatte sich aber nie daran gewöhnt und brauchte die Menge nicht zu erhöhen. Manchmal trank er absichtlich zuviel als Ersatz für die Schlaftabletten, wenn er im Lauf einer langen Schicht mehr gesehen hatte, als er sehen wollte. Rauschgift kam aus demselben Grund nicht in Frage. Haydons metabolisches System reagierte rasch; das hielt ihn schlank, und er hatte eine niedrige Toleranzschwelle für Stimulanzien, die ihn wahrscheinlich gesund erhielt.
Sie waren nun schon über ein Dutzend Jahre verheiratet, und er hatte recht behalten. Diese Tage, an denen er verschwand, waren selten, aber sie kamen regelmäßig und offenbar unvermeidlich. Das Alter veränderte das in keiner Weise. Und Nina hatte sich stoisch darein gefügt, betrachtete sich als Verschworene, die sein Geheimnis kannte und bewahrte. Sie hatte sich geweigert, ihn zu bedrängen. Nach dieser ersten Episode hatte sie ihn eine Woche lang mit unbewußt gefurchter Stirn umhegt, und er hatte sie gelegentlich dabei ertappt, wie sie ihn mit sorgenvollen Blicken betrachtete. Grausamerweise hatte er ihr nie etwas erklärt, hatte ihre Sorgen nicht gemildert. Sein Schweigen in diesen Wochen hatte die Regeln gesetzt für die weiteren Perioden, die kommen würden und kamen. Beide litten darunter, aber Ninas schweigendes Mitgefühl war ein beredter Beweis für ihre uneingeschränkte Treue. Es war die eine, einzige Anomalie ihrer Ehe. Ihr Schweigen zu diesem Thema war das Ausnahmeopfer, das sie ihm brachte, trotz ihrer angeborenen Vernunft. Er hatte es angenommen mit all dem Ernst, in dem sie es darbrachte.
Das alles ging ihm durch den Kopf, während sie beisammensaßen in der Dunkelheit. Er fühlte, daß sie unruhig war.
»Einen Penny für deine Gedanken«, sagte sie plötzlich.
Er war überrascht. »Nichts«, wich er aus. »Ich entspanne mich nur.«
»Was macht dir Kummer?«
»Höchstens ein paar Mücken.«
»Komm schon«, sagte sie. Er fühlte, daß sie lächelte.
»Du meinst etwas anderes?«
»Ja, etwas anderes.«
»Es ist nichts.«
»Komm schon, Stuart.«
Er trank, bevor er sprach. Hatte mehr Zitrone in diesen Drink gepreßt, und die klare, scharfe Säure zog seinen Mund zusammen, ehe er den Schluck unten hatte.
»Nun ja, ich fürchte, ich bekomme meinen Job nicht mehr in den Griff. Jetzt bringe ich schon die Arbeit mit nach Hause.«
»Das hast du immer getan. Du hast die Arbeit nie im Griff gehabt.« Sie rieb die Innenseite seines Fußes, und er sah ihre dunkle Gestalt aus den Augenwinkeln, als auch sie einen Schluck trank. Sie bewegte sich geschmeidig und weich und ein wenig traurig, wie er vermutete.
Cinco warf sich auf den Fliesen neben ihrem Stuhl zur anderen Seite.
»Dann ist es, weil ich zur Zeit etwas mehr als üblich mit nach Hause bringe.«
»Etwas Besonderes?«
»Alles ist besonders.«
»Hast du dich schon einmal gefragt, ob du nicht lieber etwas anderes tun möchtest?«
Es hatte bis dahin nie zur Diskussion gestanden, nicht einmal andeutungsweise, und es überraschte ihn, daß sie es jetzt in Betracht zog.
»Nein«, sagte er.
»Keinen flüchtigen Augenblick lang?«
»Ich glaube, es gibt nichts auf dieser Welt, was ich nicht mindestens für einen flüchtigen Augenblick lang in Frage gestellt hätte.«
»Aber nicht jetzt?«
»Nein, nicht jetzt.« Er wußte nicht, warum er log.
»Ich dachte, du hättest in letzter Zeit
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