Kalter Amok
immun machen. In postinfektiösen Situationen, also wenn jemand von einem tollwütigen Tier gebissen wurde, kann man die Infektion in den meisten Fällen verhindern, wenn man immunisiertes Tollwut-Globulin mit einem Wirkstoff injiziert, zu dessen Herstellung abgetötete Viren verwendet wurden. Sobald der Wirkstoff injiziert ist, verstärkt er das körpereigene Immunsystem. Die passiven Antikörper gegen Tollwut neutralisieren das Virus innerhalb des Körpers, während der Körper selbst durch den Wirkstoff weitere Antikörper produziert.«
»Und die Inkubationszeit – kann man die verändern?«
»Wie meinen Sie das?«
»Kann man sie verkürzen, also den Inkubationsprozeß beschleunigen?«
»Hm, da gehen die Meinungen auseinander. Bei den kürzeren Inkubationszeiten haben wir es offenbar mit einer gleichartigen Krankengeschichte zu tun. Dabei spielt auch die Anzahl der eingeführten Viren und der Zustand der Wunde eine Rolle. Ein Hundebiß zum Beispiel bewirkt häufig eine Verletzung, bei der größere Haut- und Gewebepartien zerstört werden, die einer höheren Menge von Viren den Einlaß ermöglichen und nicht so gut gereinigt werden können. Auch das Abwehrsystem des Wirts spielt eine Rolle. Wenn der Patient bereits krank war, wenn es sich um einen Rauschgiftsüchtigen mit geringen immunologischen Abwehrkräften handelt, läßt sich das Virus wahrscheinlich weniger leicht aufhalten bei seiner Wanderung ins Gehirn. Einige behaupten sogar, die Stelle der Infektion sei dafür maßgebend. Wenn jemand in den Fuß gebissen wurde, hätte er zum Beispiel eine längere Inkubationszeit als jemand, der ins Gesicht gebissen wurde, von wo aus es nicht weit ist bis zum Gehirn.«
Plötzlich beugte sich Haydon nach vorn. »Mein Gott! Walther! Was ist mit Walther?«
Danach entstand beunruhigtes Schweigen. Keiner rührte sich. Und dann wandte sich Vanstraten rasch dem Telefon zu.
»Ich schicke einen von meinen Leuten mit den Impfstoffen in die Notaufnahme des Ben-Taub-Krankenhauses.« Er wählte und sprach rasch, wobei er jedes seiner Worte mit germanischen Modulationen unterstrich. Es war ein Zeichen für Vanstratens Aufregung, wenn er begann, mit Akzent zu sprechen.
Danach knallte er den Hörer auf die Gabel und trank den Rest des Sherrys aus, der sich noch in seinem Glas befand. »Ich fahre gleich hin. Ich möchte mir sein Gesicht anschauen, wenn er hereinkommt. Ich muß sicher sein, was die Infektion betrifft. Stuart, bitte sorgen Sie dafür, daß er sofort hinkommt.«
Nina ging mit Vanstraten hinaus, wobei der Pathologe mit leicht gesenkten Schultern und großen Schritten durch die Diele eilte. An der Tür gab er Nina einen Abschiedskuß auf die Stirn, dann ging er hinaus zu seinem Wagen.
Haydon telefonierte, als Nina wieder hereinkam. »… und bringen Sie ihn selbst hin. Haben Sie verstanden, Silva? Vanstraten wartet bereits auf ihn. Sagen Sie ihm, wer Sie sind. Vielleicht sollten Sie auch geimpft werden. Vanstraten wird es Ihnen erklären. Wenn Sie mit Walther im Ben Taub sind, rufen Sie mich an. Ich will wissen, ob es geklappt hat. Gut. Gut.«
Haydon legte auf und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Er drehte sich um, und da stand Nina, die die Arme um ihren Oberkörper geschlungen hatte. Haydon sah, daß sie Tränen in den Augen hatte.
»Kannst du das glauben?« sagte er und atmete schwer.
Nina wischte sich das Haar aus dem Gesicht und holte tief Luft. Haydon stand in der Ecke des Raums, die Hände in den Hosentaschen. Keiner von beiden wußte, was er tun sollte. Anschließend ging Haydon wieder zum Telefon und tippte eine andere Nummer ein.
Es dauerte eine Weile, ehe er sich meldete. »Tut mir leid, Bob – hier ist Stuart. Sind Sie wach genug? Okay. In der Sache Steen hat sich etwas ergeben, und ich muß mit Ihnen reden. Nein, nein – nicht jetzt. Aber wie wär’s zum Frühstück? Sie haben alle eingeteilt? Gut. Ja, ich weiß. Gute Nacht.«
»Willst du hier warten oder oben?« fragte Nina.
»Ich bleibe hier. Ich muß nachdenken.« Er schaute sie an, und seine Züge wurden weicher. »Geh hinauf, Schatz. Du brauchst den Schlaf. Es besteht kein Grund…«
»Ich bleibe noch ein bißchen bei dir. Ich will auch wissen, was mit Walther ist. Ich mache uns Kaffee.«
»Gut«, sagte er und setzte sich wieder. Er zündete sich eine Zigarette an und schlug die Beine übereinander. Seine Augen zeigten, daß er in Gedanken schon bei einer anderen Sache war. »Das hört sich gut an«, sprach er geistesabwesend zu
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