Kalter Amok
wischte sich den Mund ab.
»Danke«, sagte Hirsch.
»Zerdrücken Sie die Blätter mit den Fingern und geben Sie sie dann in den Tee.«
Hirsch zerdrückte die Minzeblätter und gab sie in den Tee.
Sie schaute ihm zu, eine Hand in die Hüfte gestemmt, die andere mit dem Taschentuch vor dem Mund, während er den Tee mit dem Löffel umrührte, den sie ihm gegeben hatte.
»Gut«, sagte sie, nachdem Hirsch aufgehört hatte zu rühren und einen Schluck trank. Sie setzte sich in den Stuhl, der ihm gegenüberstand, wobei sie den Wind aus dem Ventilator blockierte, und begann eine Orange zu essen, die halb geschält auf dem Tisch lag.
»Hat sie irgend jemand gekannt?« fragte die Frau dann.
»Sie sind die erste.«
»Ah, pendejos .« Sie lachte ohne Humor. »Keiner weiß etwas, wie?«
»Genau«, sagte Hirsch. Sie war auch heute noch keine unattraktive Frau, aber früher mußte sie hinreißend gewesen sein. Natürlich hatte sie ihre gute Figur längst verloren, und das Fleisch ihres Gesichts hing ein wenig schlapp nach unten, aber die Eleganz ihres Knochenbaus war noch deutlich zu erkennen.
»Zeigen Sie mir noch einmal das Foto«, bat sie.
Hirsch legte es auf den Tisch. Sie beugte sich darüber, um es genau anzusehen, ließ sich Zeit, dann schnalzte sie mit der Zunge.
»Was ist ihr passiert?«
»Wir nehmen an, sie hat eine Überdosis Rauschgift genommen.«
»Ja, klar. Rauschgift. Kommt immer mal vor. Das muß es gewesen sein«, sagte sie in einem Ton, der andeutete, daß sie nicht eine Sekunde lang daran glaubte.
»Wir warten noch auf den Bericht des medizinischen Sachverständigen. Woher kennen Sie sie?«
»Sie ist keine Mexikanerin, wußten Sie das?«
Hirsch zog die Augenbrauen hoch.
»Sie kommt aus San Salvador. Aber sie ist die Ausnahme. Die meisten sind was anderes.«
»Die meisten?«
»Schmeckt Ihnen die Minze?«
»Sehr gut«, antwortete Hirsch und trank wieder einen Schluck, um zu zeigen, wie gut ihm der Tee schmeckte. »Sie sagten, die meisten sind anders.«
»Die meisten!« Sie schüttelte den Kopf und aß eine Orangenspalte, zupfte dazu geistesabwesend die Schale in kleine Stückchen. »Ich kann sofort sehen, ob jemand mexikanisch ist oder nicht. Schauen Sie sich das Gesicht an.« Sie streckte das Kinn vor. »Glauben Sie, ich erkenne eine Mexikanerin, wenn ich sie sehe. Außerdem sprechen sie gar kein richtiges Spanisch. Und auch nicht Ex-Mex. Bis auf die aus Salvador. Ich konnte sie gut verstehen.«
Hirsch fand, es war das beste, wenn er von vorne anfing. Jetzt tippte er mit dem Zeigefinger auf das Foto. »Sie kennen also dieses Mädchen?«
»Nein.« Die Frau steckte sich wieder eine Orangenspalte in den Mund und betrachtete das Foto, während sie an der Orange kaute.
»Aber Sie sagten – «
»Ich habe sie getroffen, habe mit ihr gesprochen. Und auch die anderen, einige von ihnen.«
»Wer ist sie?«
Der Vogel stieß einen Pfiff aus.
»Es gibt tausend Möglichkeiten, etwas zu erfahren, hier im Barrio. Der Klatsch ist unsere Leidenschaft. Aber das beste ist es, und auch das sicherste, wenn man die ojos offenhält und die boca zumacht.«
Sie grinste breit; das gefiel ihr. Hirsch fand ihre Zähne bemerkenswert. Sie waren außergewöhnlich weiß, gerade und kräftig. Er kannte viele junge Mädchen, die Tausende für solche Zähne ausgegeben hätten. Jetzt erhob sie sich von ihrem Stuhl und ging zu den schlappen Vorhängen, die neben den beiden vorderen Fenstern hingen. Sie bückte sich, hob etwas auf, das hinter den Vorhängen auf dem Boden lag, und kam zum Tisch zurück. Dann legte sie ein starkes Fernglas vor Hirsch auf den Tisch.
»Aus Armeebeständen«, sagte sie.
»Ja, Ma’am.«
»Vom Hidalgo Park aus kann ich die Schiffe sehen, die in den Kanal kommen. Ich kann ihre Namen lesen und das schmutzige Wasser sehen, das aus den Löchern läuft. Ich kann die Männer sehen, die auf den großen Tankern zwischen den Rohren und den Aufbauten herumgehen. Ich kann sehen, wie sie sich zuwinken und mit den Händen gestikulieren.
Und von meiner kleinen Veranda aus kann ich die ganze Straße überblicken. Warum sollte ich mich schämen, es zuzugeben? Ich kann nachts in die offenen Fenster schauen und sehen, wie sie schwitzen, auf der Stirn und unter den Kleidern. Ich kann sogar von ihren Lippen lesen. Harbor Street bei Nacht ist wie ein einziger, langer Stummfilm.«
Sie neigte den Kopf zur Seite und deutete hinaus zur Straße. In den Händen hatte sie die restlichen Orangenspalten.
»Etwas weiter
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