Kalter Amok
da keine Ausnahme. Die späten Stunden waren Routine für ihn, das Wort »spät« hatte jegliche Bedeutung verloren.
Es half allerdings, zu einer Gruppe zu gehören, der man wegen ihrer Fähigkeiten die Gelegenheit gegeben hatte, mit berühmten Professoren ihres Gebiets an Spezialprojekten zu arbeiten. Rafael tat dies bei einem Team unter Dr. Taylor Morton in der Abteilung Mikrobiologie und Infektionskrankheiten. Im Abglanz von Dr. Mortons Ruf wurden sie von den anderen Studenten respektiert, räumte ihnen die Verwaltung eine Menge Privilegien ein und vergaß das Krankenhauspersonal gewisse Verstöße, die es bei allen anderen Studenten streng geahndet hätte. Deshalb fragte ihn niemand, wenn er sich noch so spät im Labor aufhielt.
Er legte seine Bücher auf einen vollgepackten Schreibtisch neben dem Vorratsschrank und nahm seinen langen, weißen Laborkittel vom Kleiderständer. Zog ihn an, knöpfte ihn zu und schaute sich um. Das Labor eines modernen medizinischen Forschungszentrums war eine Umgebung, in der Präzision das wichtigste war, eine leidenschaftslose Präzision. Es gab keinen Platz für Unsicherheit oder Unaufmerksamkeit zwischen diesen Instrumenten der Exaktheit, keinen Platz für schlampiges Denken oder oberflächliche Theorien. Rafaels Augen richteten sich in die Runde, sein Blick berührte bewundernd die harten Chromflächen, das Glas der Probenröhrchen, Zylinder und Flaschen. Er lächelte innerlich, immer nur innerlich, die Meßgeräte an, die Linsen, die Skalen, die gebogenen Röhren und die Reagenzgläser, die sich auf der schwarzen, glatten Oberfläche der Labortische spiegelten. Das hier war seine Welt. Der Geruch von Alkohol und Formaldehyd war Ozon für seine Lungen.
Heute abend war es in besonderem Sinne seine Welt. Heute widmete er sich nicht der Lösung eines gemeinsamen Projekts, sondern seiner eigenen Besessenheit. Es paßte gut, dachte er, daß er seine Arbeit immer in den stillen Nachtstunden versah.
Er ging zur Rückseite des Labors und öffnete den verchromten Kühlschrank. Brummte ein wenig, langte hinein und nahm einen durchsichtigen Plastikbeutel heraus, den er auf einen der schwarzen Tische legte. Dann beugte er sich darüber und betrachtete den Hundekopf. Es war ein irischer Setter gewesen, und er hatte verdammtes Glück gehabt, das Tier zu bekommen. Die Köpfe von Tieren, bei denen man Tollwut vermutete, gingen normalerweise zum Gesundheitsamt in Austin, wo man das Virus bestimmte. Aber gelegentlich bekam er sie über seinen eigenen Schwarzmarkt. Es gab eine ganze Reihe von Tierärzten in der Stadt, die wußten, daß er dreihundert Dollar pro Kopf bezahlte, vorausgesetzt, das Tier war mit Tollwut infiziert.
Der Plastikbeutel lief an, und Rafael rieb ihn am Haar des Hundekopfs. Dann nahm er den Beutel und legte ihn wieder hin, so daß der Kopf auf dem Hals stand und ihn anstarrte. Es war ein guter Kopf. Bei großen Hunden war die Arbeit wesentlich leichter. Er tätschelte den Kopf und ging dann in den kleinen Sezierraum, den man durch eine Tür neben dem Kühlschrank betrat. Alles lag genauso da, wie er es sich früher am Abend zurechtgelegt hatte. Er kam immer vorher vorbei und legte sich die Instrumente zurecht. Es war angenehm, hereinzukommen und dann gleich mit der Arbeit beginnen zu können.
Als er wieder hinausging, schaltete er einen Deckenventilator an, der die Luft aus dem Labor herübersog. Im Sezierraum gab es keinen Geruchsabzug, eine Vorsichtsmaßnahme, die das Risiko einer Tröpfcheninfektion durch die Luft verminderte.
Rafael zog sich einen anderen, weiteren Laborkittel über den ersten, dann eine steife Gummischürze, die er am Rücken zuband. Er setzte sich das Schutzschild aus Plexiglas auf, das man wie einen Schutzhelm beim Schweißen nach unten klappen konnte, um das Gesicht vor Blut- und Gehirnspritzern zu schützen, dann zog er die schweren Gummihandschuhe an. Er nahm den Plastikbeutel, ging hinüber in den Sezierraum und schloß die Tür. Dann riß er den Beutel auf, ließ den Kopf auf den Seziertisch aus rostfreiem Stahl rollen, neben die glänzenden Instrumente, die auf einem sterilen Handtuch lagen.
Er befestigte den Kopf des Setters in einer Haltevorrichtung, die an den Schraubstock eines Klempners erinnerte. Die beiden Blöcke, die den Gegenstand festhalten sollten, waren mit scharfen Stahlnägeln versehen. Nachdem er den Kopf dazwischengelegt hatte, drehte Rafael die Blöcke zusammen, wobei sich die Nägel in beide Seiten des Kopfes bohrten
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