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Kalter Amok

Titel: Kalter Amok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David L. Lindsay
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Zittern lief vom Hals nach unten zu den Schultern, zum Oberkörper, zur Taille und brachte ihren Körper zum Beben wie den eines kleinen Kindes, das von einem wütenden Erwachsenen geschüttelt wurde. Sie grub die Finger in die Rippen der Klimaanlage, versuchte verzweifelt, auf den Beinen zu bleiben, riß die Rippen mit steifen Fingern heraus, während sie zu Boden fiel. Sie traf hart auf den Boden auf, ihr ganzer Körper war außer Kontrolle, obwohl sie völlig klar denken konnte und mit Entsetzen die Krämpfe beobachtete, die sie wie ein unsichtbarer Dämon auf dem Boden herumstießen.
    Nach einer Zeit, die sie nicht abschätzen konnte, ließen die Krämpfe nach, und nun war sie so schlapp und hilflos wie der Morgenmantel, der sich um ihre Beine und Arme schlang. Unfähig, sich zu bewegen, begann sie vor Erschöpfung zu weinen. Dabei entstand kein Geräusch – ihre Kehle und die Stimmbänder ließen das nicht zu – aber sie öffnete weit den Mund und weinte in entsetztem Schweigen. Zum erstenmal in ihrem Leben fühlte sie sich völlig hilflos, eine Hilflosigkeit, die nicht mit einem langen, erholsamen Schlaf zu beheben war, mit einer Injektion, einer Nase voll Koks oder irgend etwas, das dieses Gefühl verscheuchte. Pauline fürchtete, daß sie sterben würde. Sie verstand nicht, was mit ihr geschah, aber sie hatte niemals gedacht, daß der Tod so über sie kommen würde, ohne Ursache und ohne Gnade. Allein. Die Tränen waren riesengroß, sie barsten aus ihren Augen und liefen ihr in den offenen Mund. Durch den Schleier der Tränen sah sie die andere Seite des Zimmers. Das Sofa, das rosafarbene Röhrchen auf dem Boden – und das Telefon, auf einem kleinen Tisch neben dem Sofa. Langsam, ganz langsam, kroch sie darauf zu.
     
    Vom Bett aus konnte er durch die offene Tür schauen, über den weißen, polierten Marmorboden zur Fensterwand des Wohnzimmers. Er konnte das Teleskop auf dem Stativ sehen. Jetzt schaute er auf die Frau, die neben ihm schlief. Sie hatte Puder im Haar und an der Schulter. Er empfand nichts. Sie war einfach da wie die Bettdecke und das Kissen, wie das Bett.
    Er schlug die Decke zurück und stand auf. Als er nackt neben dem Bett stand, zündete er sich eine Zigarette an und schlenderte hinüber ins Wohnzimmer. Er inhalierte den Rauch und beugte sich über das Teleskop. Der einundzwanzigste Stock des Carrington-Apartmenthauses war ein guter, vorteilhafter Standpunkt. Er schwenkte das Objektiv über den dichten Baldachin alter Bäume entlang der Main Street und richtete es auf das medizinische Institut des Krankenhauses. Es war später Nachmittag; die Schatten der Gebäude fielen nach rechts. Er konnte das Stockwerk sehen, in dem sich das Labor befand, aber nicht die Fenster. Sie lagen auf der Ostseite, und er sah nur das nördliche Ende des Gebäudes. Nun schwenkte er das Teleskop ein wenig nach links und blickte über die Spitze des Astrodoms zum Südteil der Ringstraße 610 hinüber. Übler, gelber Smog hüllte die Schnellstraße ein und filterte die Strahlen der tief im Westen stehenden Sonne. Dieser gelbe Dunst erstickte die Stadt; er schien der Hauptgrund für das langsame Dahinkriechen des Verkehrsstroms zu sein, der durch Sauerstoffmangel geschwächt wurde.
    Plötzlich rauschte aus allen Stereolautsprechern in der luxuriösen Wohnung die rauchige Stimme von Alcione mit »Forca do Amor«. Er schwang das Teleskop herum auf das Schlafzimmer und sah gerade noch einen ovalen Nabel, der im Undeutlichen verschwamm, als er sich näherte. Er blickte auf, und sie tanzte zur Sambamusik nackt auf ihn zu, während der Chor in den rauchigen, weiblichen Gesang von Alcione einstimmte in einem ratternden Rhythmus von Unisono-Stimmen, die anschwollen und wieder zurückgenommen wurden:
     
    Eu sou tudo isso
    E nada sou
    Sein o teu amor
    Viverei, viverei… viverei…
     
     
    Rauchend sah er zu, wie sie sich auf die Zehenspitzen erhob und den Raum umkreiste im Takt der Samba, die Augen halb geschlossen, das Haar schwarz und wellig, in den messingfarbenen Strahlen der sinkenden Sonne, die sich durch die Fensterwand einen Weg bahnte und die Hälfte des länglichen Raums wie mit Feuer erfüllte. Obwohl er nicht durch das Teleskop schaute, blieb er müßig dahinter stehen und folgte ihren Bewegungen mit dem Rohr, als zielte er mit einem Maschinengewehr auf sie. Hinter ihr, jenseits der Fensterwand, reflektierten Chrom und Glas der Wagen auf der Schnellstraße das Sonnenlicht und warfen scharfe Lichtsplitter

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