Kalter Amok
Mooney.
Haydon kehrte allein in sein Büro zurück. Es stank nach Metall von den schmutziggrauen Stahlschreibtischen und nach heißgewordenen elektrischen Leitungen, ein Geruch, der aus dem kleinen Ventilator stammte, welcher die heiße Luft der elektronischen Module des Computers kühlte. Außerdem stank es nach dem abgestandenen Rauch von Jahrzehnten und nach verschüttetem Kaffee, der nie ordentlich weggewischt worden war. Selbst jetzt entdeckte Haydon einen halbleeren Becher kalten Kaffee auf dem Boden hinter der Tür, den jemand aus irgendwelchen Gründen dort abgestellt hatte. Er mußte schon seit ein paar Tagen dort stehen; in der Mitte der Flüssigkeit schwamm grünlicher Schimmel. Haydon nahm den Becher und warf ihn draußen in einen Abfalleimer.
Dann kam er mit einem feuchten Handtuch an seinen Schreibtisch zurück und wischte damit die Ringe der Colaflaschen ab. Es gab keinen Privatbereich in einer Kriminalbereitschaft, und wenn nicht viel los war, besuchten sich die Kriminalbeamten in ihren Büros mit der ziellosen Kameraderie von gelangweilten jungen Burschen, die sich in ihren Wagen in einem Drive-in besuchten. Haydon trocknete die Schreibtischplatte mit einem Papierhandtuch ab und setzte sich dann mit dem Umschlag, in dem sich die Fotos befanden. Er nahm sie heraus und sortierte die Gruppenfotos von den Vergrößerungen aus, die Hirsch und Mooney dagelassen hatten. Man sah meist ziemlich undeutliche Viertelprofile und die Hinterköpfe der nichtsahnenden Freier.
Er konzentrierte sich darauf, unterbrach gelegentlich, um ein deutliches Gesicht zu studieren, ein Ohr, eine Kopfform, bevor er sich an das nächste Foto machte. Er fragte sich, welcher dieser Männer imstande sein mochte, so zu töten, wie in diesem Fall getötet wurde. Manchmal erschien es ihm noch immer sonderbar, daß Menschen, die so etwas taten, sich nicht von den anderen Menschen unterschieden; daß da nicht etwas war, irgend etwas, das sie unterschied von den Männern, mit denen er eben beisammengesessen hatte. Vielleicht war es da, war bei den meisten nur zu schwach zu erkennen, zumindest für die Allgemeinheit.
Es war die Anonymität des Schattens im Inneren dieses Mannes und all der gesichtslosen Menschen, die er in seinem Beruf suchen mußte, welche ihn ärgerte und ihm sogar Angst machte. Es war kein ungewöhnlicher Gedanke, sich zu fragen, ob man zu den Verbrechen fähig wäre, die von anderen begangen wurden – vorausgesetzt, man befände sich in ihrer Situation. Eine Frage, die er schon von anderen Kriminalbeamten gehört hatte, bei jenen seltenen Gelegenheiten, wo sie ernsthaft über solche Dinge sprachen. Aber wie viele Menschen fürchteten sich vor den Schatten in ihnen selbst, Schatten, die sie mit Menschen wie dem Mörder teilten, welchen Haydon suchte?
Letztlich ging es dabei um den Grad der Abweichung. Das wußte er, und jedesmal, wenn er einem abweichenden Verhalten begegnete, fragte er sich nach dem Grad dieser Abweichung. Es hatte nichts zu tun mit den Theorien kriminellen Verhaltens, wie sie die Legislative oder die Exekutive aufstellte. Es hatte mit ihm selbst zu tun, mit dem, was er sah und fühlte bei einer solchen Begegnung. Er wußte, daß das Verständnis der Grenzen des Normalen immer weiter gespannt wurde, seit die Wissenschaft mehr und mehr über das menschliche Gehirn und die menschlichen Verhaltensweisen erforschte. Inzwischen war man übereingekommen, daß das kranke und das gesunde Gehirn mehr miteinander gemein hatten als man bisher glaubte. Die moderne Psychiatrie hatte den modernen Menschen in die einzigartige Position versetzt, daß man ihm gewisse kleinere Perversionen in der einen oder anderen Form zugestand, ohne ihm deshalb schon den Makel eines geistig Kranken aufzuerlegen. Insgeheim konnte er viele Schatten beherbergen, sein Geist konnte ein Schlachthaus bruchstückhafter Realitäten sein, aber man ordnete ihn dennoch unter die Gruppe der Normalen ein. Und dort blieb er, solange er seine Schatten nicht freiließ, solange er sie nicht seinen Nachbarn vorführte, als rechnete er damit, daß sie daran ebenso viel Vergnügen finden würden wie er selbst. Das durfte er unter keinen Umständen tun, denn seine Nachbarn waren die reale Welt, und wenn es ihm nicht gelang, so zu handeln, daß es seine Nachbarn akzeptabel fanden, dann wurde er über den Grat gestoßen, hinter dem die Psychose beginnt. Dabei kam es nicht darauf an, ob seine Nachbarn vielleicht gleiche oder andere, aber ebenso
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