Kalter Amok
seltsame Schatten beherbergten – vorausgesetzt, sie ließen sie nicht sehen.
Der Mann mit dem Tollwut-Schatten hatte den Fehler gemacht, ihn ans Tageslicht zu zerren. Sein Schatten wütete unter den Nachbarn, und seine Nachbarn hatten Angst davor. Eine Ironie des Schicksals, dachte Haydon, daß gerade das, was er vor der Welt verborgen hatte, jetzt das einzige war, was diese Welt von ihm wußte. Der Schatten war alles, was Haydon von ihm gesehen hatte. Der Mann selbst blieb unsichtbar. Aber würde er den Schatten in sich verschlossen haben, hätten ihn dann seine Nachbarn als Verrückten verdächtigt? Das war die Frage, die Haydon bedrückte, weil er die Antwort darauf bereits wußte. Sie lautete: nein. Es gab keine objektive Normalheit, nur die Erscheinungsform des Normalen. Und gerade die Erscheinungsform des Normalen, die den Schatten bis vor kurzem verborgen gehalten hatte, war es nun, die den Täter verborgen hielt.
Haydon dachte darüber nach in der beengten Umgebung seines Büros, mit den körnigen fotografischen Details von Männerköpfen auf dem Schreibtisch, die ausgebreitet waren wie die Abbilder losgelöster Seelen, welche wieder mit ihren Körpern zusammengesetzt werden mußten. Er merkte nicht, daß Bob Dystal am Ende des Arbeitstages vorbeikam und kurz an seiner Tür stehenblieb, ehe er hinausging, sah auch nicht, daß sich die Kriminalbereitschaft leerte und sich bald danach mit der kleineren Nachtschicht zur Hälfte wieder füllte. Er sah nichts als die goldgelben, saphirblauen und rubinroten Porträts namenloser Männer, hörte nichts als seine inneren Selbstgespräche, bis das Telefon klingelte und Nina ihn daran erinnerte, daß er zu Hause erwartet wurde.
23
Pauline Thomas lag auf dem Sofa und starrte teilnahmslos auf die angstverzerrten Gesichter der Schauspieler in der Serie »Die Jungen und die Ruhelosen«. Über den Bildschirm wanderten Schattenwellen, ließen das Bild in der Horizontalen verschwimmen und verzerrten die Köpfe von Ashley und Jack, die mit ihrer Haßliebe-Beziehung kämpften, welche sie für überwunden hielten, was jedoch nicht der Fall war. Es gab viele Großaufnahmen, die in Paulines Magen zusätzliche Übelkeit erzeugten.
Sie langte über den Kopf hinweg nach hinten und fand ein rosa Röhrchen mit Pepto-Bismol. Sie schraubte den Verschluß ab, und das Röhrchen schwankte wie eine Bierflasche. Sie zitterte. Eine Muskelschwäche kam in Wellen über sie, und sie stellte das Röhrchen neben das Sofa, ohne den Verschluß wieder anzubringen. Einen Augenblick lang lag sie absolut erschöpft und bewegungslos da. Ihr blaues Nylon-Neglige war offen, und sie warf einen Blick auf ihre hervortretenden Hüften, die die Taille in ihrer Schlankheit noch betonten. Scheiße, dachte sie, jetzt hatte sie sich drei Stunden lang fast pausenlos übergeben, und ihre Haut war schweißnaß und blaß. Der dunkelbraune Fleck ihres Schamhaars ließ sie an den wilden Schopf blondgefärbten Haars denken, den sie auf dem Kopf hatte. Er war tot bis auf die Wurzeln und stand ab wie bei einer Karikatur. Sie sah es im Spiegel des Bildschirms.
Beide Fenster ihres Schlafzimmers im oberen Stockwerk des Doppelhauses waren offen, und dennoch schwitzte sie. Ihr Unterleib war feucht davon, und der Schweiß lief ihr in großen, perligen Tropfen von den Seiten auf den Rücken. Ihre Lungen fühlten sich an, als ob sie gegen Würmer kämpften, und ihr schmerzender Hals war von außen mit einer gelatineartigen Schicht Wick Vaporub bedeckt, das sie gründlich einmassiert und dann noch einmal dick darübergegeben hatte. Bei jedem Atemzug drang der Mentholgeruch in ihre Lungen, und die Würmer bäumten sich auf. Sie hustete trocken und rasselnd.
Jetzt versuchte sie, sich auf Ashley und Jack zu konzentrieren. Jack war wütend, aber sie verstand nicht, was er sagte. Seine Stirn näherte sich Ashleys Kopf, berührte ihn, und dann schwoll Ashleys Kopf an, bis er gegen den oberen Rand des Bildschirms stieß. Aber nicht genug damit – er schwoll über das Gerät hinaus und stieß eine Nippesfigur um, die auf den Boden fiel und zerbrach. Pauline regte sich fürchterlich über die zerbrochene Figur auf und wollte aufstehen, gerade als Ashleys Kopf wieder zu schrumpfen begann, genau wie der Kopf von Jack. Pauline streckte den Hals, um die zerbrochene Figur zu sehen. Sie stellte mit Erschrecken fest, daß ihr nacktes, rechtes Bein vom Sofa gerutscht war und unkontrollierbar zuckte. Es hatte das Röhrchen Pepto-Bismol
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