Kalter Fels
wären mir fremd. Ich bin in Pettneu am Arlberg geboren, da kommt man ja schon mit Skiern an den Füßen auf die Welt. Und dann habe ich den Großteil meines Lebens hier in Tirol verbracht – da geht man natürlich in die Berge. Ich bin zwar nie geklettert, aber ich bin doch auch auf ein paar unserer höheren Berge gestiegen – Wildspitze, Similaun, Großer Möseler –, und ich bin oft gewandert. Die Berge und die Bergsteigerei, die gemäßigte, waren mir vertraut. Und dennoch, man muss sich vor Ort immer auch auf die Aussagen der Fachkräfte verlassen. In beiden Fällen, mit denen ich zu tun hatte, waren es der jeweilige Einsatzleiter der Bergrettung und der Arzt, der aus dem nächstgelegenen Ort zum Unfallopfer aufgestiegen ist.«
Er schwieg einen Moment lang, sah Schwarzenbacher an, und in seinen Augen lag jetzt etwas Trauriges.
»Es gab nichts, wirklich nichts, was auf Fremdeinwirkung hingedeutet hätte. Vielleicht war es ein Fehler, diese Eindeutigkeit nicht in Zweifel gezogen zu haben. Bei Mannhardt lag die Sache klar: Allein aufgebrochen – irgendeine Verwandte hatte das bestätigt, auch die Nachforschungen der Gendarmerie ergaben das –, unglücklicherweise von einem Steinschlag überrascht und dann in die Tiefe gerissen worden. Und bei Nemecz im Karwendel sah die Situation kaum anders aus: Einzelgänger, Steinschlag, Tod.«
Fast übergangslos fragte er: »Kennen Sie sich aus im Gebirge? Ich meine, waren Sie früher in den Bergen?«
»Wenig«, sagte Schwarzenbacher. »Die Berge haben mir nie viel gegeben.«
»Dann ist es umso bemerkenswerter, dass Sie jetzt eine solche Begeisterung dafür zu entwickeln scheinen.« Er sagte das leicht von oben herab, von Staatsanwalt zu Polizeibeamtem. »Sie müssen wissen, jedes Gebirge ist anders. Das Karwendel ist wunderschön, aber die Felsen sind brüchig. Das Wetterstein und das Kaisergebirge bestehen aus härterem Kalk, was dennoch nicht ausschließt, dass ganze Bergstürze vorkommen. In den Zentralalpen hat man Urgestein: Meist brockig, brüchig, aber die ganzen Schutthaufen werden in höheren Lagen vom Eis zusammengehalten.«
»Was wollen Sie mir damit sagen?«
»Ich will Ihnen klarmachen, dass man als Beamter auf die intime Ortskenntnis Einheimischer angewiesen ist. Bergführer, Bergrettungsleute, Hüttenwirte – die wissen, wo Steinschlag des Öfteren vorkommt, wo es plausibel ist, dass einer so ums Leben kommt wie dieser Mannhardt oder der Nemecz. Wenn Sie mit solchen Leuten an einem Unfallort sind, und keiner von denen meldet Zweifel am natürlichen Unfalltod an, dann schwinden auch bei einem erfahrenen Staatsanwalt alle kleinen Zweifel schnell. Verstehen Sie, was ich meine?«
Schwarzenbacher nickte. Er befragte den Staatsanwalt i. R. nach den Parallelen und Übereinstimmungen und erfuhr so, dass es sich um alles in allem fast identische Unfallgeschehen gehandelt haben musste. Das würde passen zur Vermutung, dass ein Täter auf ganz ähnliche Weise und über einen großen Zeitraum hinweg mehrere Menschen brutalst getötet hatte.
Der Zeitraum war es, der ihm Kopfzerbrechen bereitete.
»Sie sind so still, Herr Kommissar.«
»Bin kein Kommissar mehr«, antwortete Schwarzenbacher, der durch Kröningers Worte in der Tat aus seiner kleinen Grübelei gerissen wurde.
»Oh, ich glaube, da irren Sie ein wenig. Sie sind noch immer genauso ein Kommissar wie ich ein Staatsanwalt. Auch wenn man, wie Sie so schön gesagt haben, meine Dienste und wohl auch die Ihren nicht mehr benötigt. Aber sagen Sie mir doch jetzt, was Sie so nachdenklich macht.«
Schwarzenbacher überlegte kurz, wie weit er Kröninger einweihen wollte. Der Mann war ihm nicht sonderlich sympathisch. Es wäre allerdings auch der erste Staatsanwalt gewesen, der ihm sympathisch war. Andererseits konnte er Kröningers anfänglich sehr abweisende Art nachvollziehen; wenn heute jemand zu ihm gekommen wäre, um ihm eine frühere Schwäche vorzuhalten, er hätte sicher auch nicht besonders charmant reagiert. Was sollte schon schiefgehen, wenn er ihm ehrlich sagte, was ihm Probleme machte. Genau genommen konnte er doch nur gewinnen. Denn: Vielleicht hatte Kröninger ja noch eine gute Idee zu dieser verworrenen Geschichte.
»Ich habe keine wirklichen Anhaltspunkte dafür, dass es keine Unfälle waren. Ich drehe das Ganze nur um: Wäre ich davon ausgegangen, dass es sich um Morde handelt, hätte ich auch keine überzeugenden Anhaltspunkte für Unfälle gefunden. Daraus folgt: Ich will die
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