Kalter Fels
können, wo er ihr schon einmal begegnet war.
Ist ja auch egal, dachte er. Es gibt im Moment wirklich Wichtigeres.
* * *
Die Begegnung mit Manfred Ipflinger hatte allerhand ausgelöst bei Schwarzenbacher. Zum ersten Mal hatte er jemanden getroffen, der zumindest einen der fünf Fälle für einen Mordfall hielt und der dazu noch ein vielleicht nicht unerhebliches Fundstück, wenn nicht sogar Beweisstück liefern konnte. Das war ein riesiger Schritt nach vorn.
Gleichzeitig ärgerte sich Schwarzenbacher über die Versäumnisse, die es auf Polizeidienststellen leider genauso gab wie überall sonst. Der Vorgesetzte von Ipflinger, der die Ermittlungen geleitet hatte, war am Fund des iPod überhaupt nicht interessiert gewesen. Schien froh gewesen zu sein, dass die ganze Angelegenheit mit dem Segen von Arzt, Bergrettung und Staatsanwaltschaft als Unglücksfall abgetan werden konnte.
So ein Idiot, dachte er. Und schloss ein »Gott hab ihn selig« an – der Beamte war knapp vier Monate nach den Ermittlungen im Kaisergebirge an einem Herzinfarkt gestorben. Er hatte das als aktiver Polizist zweimal erlebt: Vermeintliche Morde hatten sich nach langen Untersuchungen doch als Unfälle herausgestellt. Es war für ihn keine Erlösung gewesen, sondern in beiden Fällen eine Enttäuschung.
Was ihn aber seit dem Gespräch noch mehr umtrieb als zuvor, war zum einen die Befürchtung, dass es sich nicht bei allen fünf Fällen um Morde gehandelt hatte; sie also unter Umständen dabei waren, in Sackgassen zu geraten. Zum anderen verstörte ihn, dass er immer mehr die Überzeugung hatte gewinnen müssen, dass es bei den Morden keinen inneren Zusammenhang gab, keinen roten Faden, mit dem sich all die traurigen Ereignisse hätten verknüpfen lassen.
Ein Täter ist leichter zu kriegen als drei oder vier verschiedene, dachte er.
Er sah hinaus auf das dicht besiedelte Inntal zwischen Jenbach und Wattens. Die Bahnlinie und die nahe Autobahn durchschnitten ein Gewerbegebiet nach dem anderen.
Nicht mal das schöne Wetter kann die Hässlichkeit einer solchen Besiedelung kaschieren, dachte er. Lauter geschmacklose, schnell hingestellte Zweckbauten, die alle nicht für die Zukunft errichtet sind. Solche Architekten sollte man strafrechtlich verfolgen.
Er ging in Gedanken die Liste der Steinschlagopfer durch; Architekt war keiner von ihnen gewesen. Zwei Handwerker, ein Beamter, ein Student, ein junger Lehrer.
Lauter Männer. Nicht eine Frau unter den Opfern.
Zum Glück. Ihm war ein Gewaltverbrechen an einer Frau immer grauenvoller vorgekommen als eines an einem Mann. Eigentlich ja Unsinn, das wusste er. Doch es war so, und es hatte sich während all seiner Berufsjahre und bis heute nicht geändert.
Er dachte an die Frauen, deren Tode er zu untersuchen gehabt hatte. An die oft unvorstellbare männliche Gewalt und Grausamkeit, auf die er dabei immer wieder gestoßen war. Er erinnerte sich der blutüberströmten Gesichter, aus denen ihn gebrochene Augen angestarrt hatten, und er erinnerte sich der zahlreichen Stichwunden, die einer Frau von einem rasend gewordenen Exfreund zugefügt worden waren: Einstiche im Gesicht, im Bauch, in den Brüsten und zudem noch eine völlig zerschnittene, in Fetzen gerissene Vagina.
Er versuchte, das Gesicht von Karin Ipflinger aus seinen Gedanken zu verdrängen. Sie ging ihn nichts an, durfte ihn nichts angehen, und selbst wenn: Für ihn, den deutlich älteren Mann, der noch dazu im Rollstuhl saß, würde sie nichts übrighaben.
Aber das war nicht der Grund, warum er sie wegscheuchen wollte aus seiner Phantasie. Der wahre Grund war der, dass er sie nicht hineinmischen wollte in dieses Chaos aus Blut und Gewalt, aus Vergewaltigung und Totschlag, von dem selbst ein Polizist nach Jahren im Ruhestand immer noch heimgesucht wurde. Er wollte sie da heraushalten, wollte sie beschützen, wollte sie in Watte hüllen und am liebsten immer in seiner Nähe haben.
Alter Narr, dachte er.
Er zog sein Handy heraus und wählte die Nummer von Pablo.
Als er erfuhr, dass es nur eine Fleischwunde war, nicht mehr als ein Makel an Marielles wahrscheinlich ziemlich schönem Körper, war er beruhigt.
»Damit wirst du leben können«, sagte er zu Pablo. »Sag ihr Grüße und gute Besserung von mir. Ach ja, und noch was: Die Sache nimmt Fahrt auf. Sag ihr, sie soll schnell gesund werden, sie wird gebraucht.«
Dann steckte er das Handy weg, schaute wieder hinaus auf die Gewerbegebietslandschaft, hinter der ab und an der
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