Kalter Fels
sehen, ihn als Mörder abgestempelt zu wissen.
»Sein Antrieb war nie einfach nur Hass, müssen Sie wissen. Sein Antrieb war immer die Liebe. Er liebt mich so sehr, dass ich ihm nicht einmal wirklich böse sein kann für das, was er getan hat. Er hat alles nur getan, um mich zu schützen, um Schlimmes von mir abzuhalten.«
Hosp war anzusehen, dass ihm diese Ausflüchte in die Geschwisterliebe ungeheuer auf die Nerven gingen. Zugleich war er erfahren genug, dass er jetzt nicht opponierte, sondern die Frau einfach weiterreden ließ.
»Wir haben irgendwie dann ja zu dritt zusammengelebt«, berichtete sie. »Karl ist an den Wochenenden auf die Alm gekommen und später, im Winter, zu mir nach Scharnitz. Er war viel in den Bergen unterwegs. Immer beim Wandern und Bergsteigen oder beim Skitourengehen. Aber an den Abenden war er da, hat mit uns gegessen, hat bei mir geschlafen. Er hat immer Geld gegeben – fürs Essen, meine ich! – oder Lebensmittel mitgebracht. Aber Ferdinand hat ihn gehasst, das war zu sehen und zu spüren. Einmal, als Karl wieder in den Bergen war, hat er gesagt: ›Ich hör dich schreien in der Nacht. Der ist nicht gut zu dir, der Karl. Wenn er dir wehtut, mach ich ihn tot.‹ Damals hab ich das nicht ernst genommen. Hab meinen Bruder bedauert, dass er keine Ahnung hatte von dem, was zwischen einem Mann und einer Frau im Bett alles Schönes geschehen konnte, so schön, dass es zum Schreien ist. Habe ihm nur die Wangen getätschelt und gesagt, dass er sich zu viele Sorgen mache, dass die ganz nutzlos seien, mir gehe es schon gut, und dass der Karl ein lieber Mensch sei.«
Sie sah Hosp an. »Glauben Sie mir, ich will mich nicht freisprechen von meiner Schuld – ganz im Gegenteil: Sie verfolgt mich seit dreieinhalb Jahrzehnten jeden Tag, an dem ich lebe –, aber ich muss Ihnen sagen, dass ich damals nicht geahnt habe, wie tief, ja, wie abgrundtief Ferdinand gehasst hat, wie verzweifelt er gewesen sein muss.«
Sie schnäuzte sich wieder und trank einen Schluck vom Kaffee.
»Sie haben ihn geliebt, oder?«, fragte Hosp.
»Wen?«, sagte die Senkhofer.
»Mannhardt.«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie zuerst. »Vielleicht schon. Ich habe ja von der Liebe nicht viel verstanden. Aber ich hab es nicht nur wegen dem Haushaltsgeld mit ihm gemacht, wenn es das ist, was Sie meinen. Und ich habe Ferdinand geliebt, anders. Und ich lasse uns nicht auseinanderdividieren, egal, was geschehen ist.«
»Mannhardt ist im Juli 1974 ums Leben gekommen. Was hat sich zuvor ereignet? Was war der berühmte Tropfen, der bei Ferdinand das Fass zum Überlaufen gebracht hat?«
Leise wurde die Tür zur Beobachtungskammer geöffnet. Den Mann, der eintrat, kannte Schwarzenbacher flüchtig. Es war Dr. Sinic.
»Wie läuft es?«, sagte er flüsternd. Er wusste zwar, dass Hosp und die Frau ihn auch bei normaler Lautstärke nicht hätten hören können, doch er hatte diesem Umstand nie getraut.
Schwarzenbacher nickte. »Sie packt aus«, sagte er. »Ihr Bruder hat die Frau in Scharnitz umgebracht. Und noch einen anderen Menschen – vor über fünfunddreißig Jahren …«
»Dann komme ich wohl gerade richtig?«
Schwarzenbacher und der Arzt drückten sich die Hände.
»Kann man so sagen«, sagte Schwarzenbacher. »Das Wichtigste kommt erst noch.«
* * *
Der Superintendent war nicht überrascht, als ihn jemand spätnachmittags an der Tür seines Privathauses unvorangemeldet um ein Gespräch ersuchte. So etwas kam häufiger vor. Allerdings kannte er den jungen Mann nicht, der sich als Olaf Klar vorstellte und überaus aufgeregt zu sein schien.
Superintendent Oltmanns bat ihn herein und führte ihn in sein Arbeitszimmer.
Frau Oltmanns sah den jungen Mann im Flur – eigentlich hatte sie fragen wollen, ob sie mit dem Tee warten sollte, aber sie erkannte an der Mimik ihres Mannes und an der Nervosität des Gastes, dass hier etwas von Wichtigkeit geschah und dass sie sich jetzt am besten zurückzog, nichts fragte, nicht störte.
Sie sollte allzu sehr recht behalten mit ihrer Einschätzung. Für Oltmanns war es das außergewöhnlichste Gespräch, zu dem er in seiner langjährigen geistlichen Tätigkeit ins Vertrauen gezogen worden war. Es war das Erschütterndste und Fürchterlichste, was er je persönlich zu hören bekommen hatte. Und trotzdem – oder gerade deshalb – hätte er dieses Treffen durch nichts und niemanden stören lassen wollen.
Olaf Klar, ein junger Mann, der nichts Gewalttätiges oder Brutales an
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