Kalter Grund - Almstädt, E: Kalter Grund
um durch die Fenster in das Innere des Hauses zu sehen. Das Erdgeschoss lag etwas erhöht, wahrscheinlich wegen der morastigen Lage des Hauses am Ufer des Sees. Sie schirmte ihr Gesichtsfeld mit den Händen ab und starrte angestrengt hinein. Es war der Raum, der ihrer Erinnerung nach der Wohnraum war.
Das Mondlicht war so hell, dass die altmodischen Sprossenfenster gestochen scharfe Schatten auf die blanken Holzdielen warfen. Pia konnte die geschwungenen Linien einer Biedermeier-Sitzgruppe erkennen, die Trophäen an der Wand über dem Kamin, einen Sekretär vor dem Fenster. Was hatte sie denn erwartet? Den Mörder mit dem Gewehr?
Wie schon am Nachmittag zuvor, überfiel sie auf einmal das deutliche Gefühl, beobachtet zu werden. Sie wagte es nicht, sich schnell herumzudrehen, sondern versuchte, aus den Augenwinkeln heraus zu sehen, ob sich jemand dem Haus näherte. War der hechelnde Atem, den sie hörte, ihr eigener? Ein paar glühende rote Augen näherten sich ihr aus der Dunkelheit.
Plötzlich wurde ihr klar: Das ist ein Albtraum! Ich muss sofort aufwachen, ich muss jetzt nur die Augen öffnen, und alles ist vorbei. Sie hatte das schon einmal getan, in ihrer Kindheit, als ein regelmäßig wiederkehrender Albtraum sie quälte. In dem Moment, bevor es unerträglich wurde, konnte sie erkennen, dass sie nur träumte, und sich den Befehl zum Aufwachen geben. Es war ein Gefühl, als würde sie in ein tiefes Loch fallen, und kostete sie all ihre Willenskraft.
Letztlich riss sie die Augen auf und lag mit rasendem Puls und durchgeschwitztem T-Shirt im Bett. Es dauerte eine Weile, bis sie vollständig von Traum auf Wachzustand umgeschaltet hatte. Noch länger dauerte es, bis sie wusste, wo sie war.
Sie lag in Grevendorf in einem Hotelzimmer, der Traum hatte sich mit ihrer Arbeit beschäftigt. »Verdammter Mist! So weit ist es also schon gekommen«, flüsterte sie mehr resigniert als wütend.
Morgen Früh würde die Spurensicherung das Ferienhaus der Gädekes auseinander nehmen. Vorher konnte sie sowieso nichts tun. Wieder einzuschlafen schien ihr aber auch unmöglich zu sein. Sie sah auf das Display ihres Mobiltelefons, um die Uhrzeit festzustellen: Es war kurz nach eins. Sie hatte gerade mal zwei Stunden geschlafen. Pia lauschte in die Dunkelheit. Es war nichts weiter zu hören als das Heulen des Windes, der um das Hotelgebäude strich.
Pias Adrenalinspiegel war durch den nervenaufreibenden Traum so hoch, dass sie meinte, für Stunden nicht wieder einschlafenzu können. Außerdem hatte sie die Befürchtung, weiterzuträumen. Ihr Unterbewusstsein schien sich ohne Unterlass mit diesem Fall zu beschäftigen.
Robert hatte ihr einmal erzählt, dass er die Lösung eines Falles geträumt hatte, bevor er sie im wachen Zustand erfassen konnte. Er hatte den Mörder einer alten Frau im Traum gesehen, angeblich jemanden, der nicht einmal zu den Hauptverdächtigen gehörte. Es war ein Nachbar, der die Tote angeblich gefunden hatte. Seine Intuition hatte sich später als richtig herausgestellt. Ein Hinweis dafür, dass unser Unterbewusstsein mehr Details registriert, als wir in wachem Zustand wahrnehmen können. Damals, als Robert ihr das erzählt hatte, hatte es für Pia fantastisch und wunderbar geklungen: die Lösung eines Problems einfach zu träumen. Nun, da sie selbst mit Mordfällen zu tun hatte, fand sie es grauenhaft. Sie wollte nicht, dass Mörder sie im Traum besuchten.
Sie knipste die Nachttischlampe an. Der Gedanke an Robert erfüllte sie plötzlich mit Sehnsucht und Unruhe. Es schien ihr nicht möglich, auch nur noch eine halbe Stunde länger in diesem Hotel zu bleiben. Sie redete sich ein, dass sie Klarheit haben wollte, wie es um sie und Robert stand. Früher war Robert oft noch spät abends in ihre Wohnung gekommen. Wenn sie schon schlief, hatte er sich zu ihr ins Bett gelegt, sich an sie gepresst und sie hatten sich geliebt. Früh am Morgen war er oft schon wieder verschwunden.
Pia schwang die Beine unter der warmen Bettdecke hervor. Dieses Mal würde sie zu ihm fahren. Für einen kurzen Augenblick wurde sie in ihrem Vorhaben schwankend, denn es war deutlich abgekühlt im Zimmer. Sie kontrollierte, ob die beiden Fenster geschlossen waren, aber nur um festzustellen, dass es so durch die Rahmen zog, dass sich die Vorhänge blähten.
Sie zog sich eine schwarze Jeans und einen dunkelgrauenRollkragenpullover über, band ihr Haar zu einem Zopf zusammen, griff im Vorbeigehen nach ihrer Jacke und ihrem Telefon und
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