Kalter Grund - Almstädt, E: Kalter Grund
die ekelhaften Fliegen und der Lärm der Ferkel, der sich fast wie Kindergeschrei anhörte ... Dazu kam der Geruch von Schweinekot und Blut – und das alles um kurz nach sechs Uhr am Morgen, nach einer Nacht fast ohne Schlaf.
Pia merkte, wie ihr schwindelig wurde und sich große Mengen Speichel in ihrem Mund sammelten. Als sich dann eine Fliege auf ihrer Wange niederließ und kaum wieder wegzuscheuchen war, krampfte sich ihr Magen zusammen und sie musste schlucken ... Sie schaffte es gerade noch bis vor die Stalltür, wo sie sich in hohem Bogen in die Brennnesseln übergab.
Danach fühlte sie sich besser. Sie wischte sich den Mund mit einem Papiertaschentuch ab und atmete tief die kalte, klare Morgenluft ein. Am Horizont war tatsächlich schon ein heller Streifen zu sehen. Die Müdigkeit war verschwunden. Sie fühlte sich bereit, alles zu tun, was nötig sein würde, um den Menschen zu fassen, der dieses hier zu verantworten hatte.
Als Pia wieder in den Stall kam, sah sie Petra Suhr auf einer großen Holzkiste am Ende des Ganges sitzen. Sie hatte die Beine angezogen, mit den Armen umschlungen, und ihr Kopf lag seitlich auf ihren Knien. Da sie nichts als eine Jogginghose und ein T-Shirt trug, ging Pia zu ihr und legte ihr ihre Jacke über die Schultern. Petras Blick ging in Richtung der Stallgasse, in der sich die Leiche ihres Mannes befand. Ihre Augen waren rot und verquollen, ihr Blick leer.
»Es tut mir sehr Leid, was hier passiert ist«, murmelte Pia und legte ihre Hand auf Petras Schulter, um irgendwie zu ihr durchzudringen. Petra schloss für einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war ihr Blick gequält und völlig hoffnungslos. Pia zwang sich dazu, die Situation durchzustehen, obwohl sie am liebsten davongelaufen wäre. Die anwesenden Männer retteten sich in sturen Aktionismus und vermieden es, auch nur zu Petra Suhr hinüberzusehen.
»Das kann nicht sein«, flüsterte Petra, »es kann nicht Hanno sein. Wer tut so etwas? Welche Bestie von Mensch tut einem anderen so etwas an?«
»Das wissen wir noch nicht. Aber wir werden es herausfinden.«
»Aber Hanno? Er ist tot! Er wird durch nichts auf der Welt wieder lebendig werden.«
»Ja, das ist wahr.«
Petra brach in Tränen aus und verbarg ihr Gesicht auf ihren Knien. Pia winkte eine junge Polizeibeamtin in Uniform herbei, die unsicher zu ihnen schaute.
»Wir müssen Frau Suhr ins Haus bringen. Ich möchte nicht, dass sie noch hier ist, wenn die Kriminaltechnik hier anrückt. Können Sie das erledigen? Und organisieren Sie ihr auch gleich etwas Heißes zu trinken und eine Decke. Sie steht unter Schock.« Die junge Frau sah kräftig genug aus, um Petra Suhr im Zweifelsfall auch halb tragend ins Haus zu befördern.
Als Petra Suhr mit der Beamtin den Stall verlassen hatte, nahm Pia sich die Zeit, sich den Tatort genau anzusehen. Die Spurensicherung würde zwar später alles auseinander nehmen und viele Fotos schießen, aber der Gesamteindruck war wichtig.
In der Stallgasse, wo die Leiche lag, fachsimpelten Marten Unruh, Thomas Roggenau und der Arzt über die Todesursache und die Mordwaffe. Der Arzt gab nach einer kurzenUntersuchung des Toten an, dass Hanno Suhr seit mindestens vier Stunden tot war, höchstens jedoch seit sieben bis acht Stunden. In der Zwischenzeit waren schon viele Menschen durch den Stall gelaufen, hatten mögliche Spuren zerstört.
Trotzdem hoffte Pia, vielleicht doch noch ein interessantes Detail zu entdecken. Als sie schon fast aufgeben wollte, wurde sie am Rande einer Ferkelbox unweit der Leiche doch noch fündig: Da lag ein leuchtend blauer Kugelschreiber im Stroh. Pia pfiff leise durch die Zähne und hob ihn mithilfe einer durchsichtigen Plastiktüte auf. Es war ein schlichtes Exemplar, wie es millionenfach zu Werbezwecken hergestellt wird. Bemerkenswert war nur der schwarze Aufdruck »benson marketing« in kleinen Buchstaben. Pia freute sich einen kurzen Augenblick wie ein Kind, das das größte Schokoladenosterei gefunden hat.
Allerdings nur, bis ihr Blick wieder auf Hannos Stiefel vor ihr am Boden fiel. Die Tragik der Situation hatte sie wieder eingeholt. Vielleicht war der Kugelschreiber ein Hinweis auf irgendwen oder irgendwas, vielleicht aber auch nur ein dummer Zufall? Petra, Hanno oder August Suhr konnte der Stift bei der Arbeit ganz einfach aus der Tasche gerutscht sein.
Petra saß im Haus am Küchentisch. Sie war in eine karierte Wolldecke eingewickelt und hatte eine heiße Tasse Tee vor sich stehen.
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