Kalter Grund - Almstädt, E: Kalter Grund
dass Agnes hier seit zwei Tagen hauste. Das Mädchen sah verändert aus, seit Pia sie zuletzt gesehen hatte. Sie hatte auch bei ihrem ersten Treffen nicht wie ein sorgloser Teenager gewirkt, aber nun war ein Ausdruck in ihren Augen, der vermuten ließ, dass ihre Kindheit eindeutig hinter ihr lag. Sie war noch dünner geworden und hatte dunkle Schatten unter den Augen.
»Möchtest du kurz deine Mutter anrufen und ihr sagen, dass es dir gut geht und du in Sicherheit bist?«, fragte Pia sie.
Agnes nickte nachdenklich, sagte aber dann: »Ich kann aber nicht nach Hause zurück, wenigstens solange bis ...«
»Bis was?«
»Solange Sie ihn nicht verhaftet haben. Er wollte mich umbringen am Donnerstagabend, deshalb habe ich mich hier versteckt.«
»Wer war das?«, fragten Pia und Verena fast gleichzeitig.
»Ich bin mir nicht sicher ...«, sagte sie düster. »Ich weiß nur, dass ich im Moment nicht nach Hause kann.«
»Ruf deine Mutter erst einmal an, dann reden wir weiter«, sagte Pia und reichte Agnes ihr Telefon rüber.
Sie wurde Zeugin eines sehr kurzen und verlegenen Mutter-Tochter-Gesprächs.
Dann berichtete Agnes von ihren Erlebnissen seit Donnerstagabend. Sie schilderte die Ereignisse monoton, ohne sichtbare Gefühlsregung. Die ausgestandene Angst und die panikartige Flucht mussten hier, in dem einsamen Versteck, wohl wieder und wieder vor ihrem inneren Auge abgelaufen sein.
Agnes hatte entkommen können, indem sie hinter dem Knick entlanggekrochen war. Dann, als sie eine kleine Kuppe überwunden hatte, war sie quer über den Acker gelaufen. Sie hatte sich querfeldein in Richtung Malente vorgekämpft, immer Straßen und selbst Feldwege meidend, da sie nicht wusste, ob der Verfolger nicht noch einmal auftauchen und ihr den Weg abschneiden würde. Sie hatte erst die Idee gehabt, zum nächsten Polizeirevier zu laufen, dann aber befürchtet, dass ihr Verfolger sie vorher dort abfangen würde. So war sie am frühen Morgen zum Bahnhof geschlichen und hatte den ersten Zug in Richtung Lübeck genommen. Im Zug sei ihr dann die Idee gekommen, sich bei Feline in Travemünde zu verstecken.
Nachdem sie ihren Bericht beendet hatte, erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Ihre schmalen Schultern zuckten und sie weinte sich, an Verenas Schulter gelehnt, aus. Das erwartete Hochgefühl darüber, Agnes gefunden zu haben, blieb aus.
Pia zog sich in die Küche zurück und betäubte die innere Leere mit Geschäftigkeit. Zunächst rief sie Marten Unruh an, um ihn über Agnes’ Auffinden zu informieren. Pia erwischte ihn mitten in der Einsatzbesprechung. Das Gespräch fiel entsprechend knapp aus. Pia sah Marten förmlich telefonierend am Konferenztisch lehnen, während die anderen Kollegen um ihn herumsaßen und aufmerksam lauschten. Sie einigten sich darauf, dass Pia Agnes ins Hotel bringen sollte, wo einer der Kollegen sie bewachen konnte.
Im Wohnzimmer schluchzte Agnes noch immer. Pia sah sich in der spartanischen Küche nach etwas um, mit dem man Agnes beruhigen könnte. Sie fand lediglich eine angebrochene Dose mit Fertig-Cappuccino. Sie kochte Wasser auf und brachte dem Mädchen das Gebräu, das von einem schmutziggrauen Schaum überzogen war. Zumindest war das Zeug heiß. Agnes nahm es gehorsam in beide Hände und nippte daran.
»Agnes, auch wenn du deinen Verfolger nicht erkennen konntest. Weißt du, warum du verfolgt wurdest?«
»Es ist wegen dem Mord an Malte und seinen Eltern«, sagte Agnes zitternd. »Ich glaube, dass der Mörder hinter mir her war.«
»Warum? Gibt es etwas, das du mir noch nicht erzählt hast?«
Agnes nickte. Pia warf einen Seitenblick auf Verena. Sie spürte die harte, klobige Dienstwaffe beruhigend an ihrer Seite.
»Vielleicht schon. Ich wohne doch direkt neben den Rohwers und im letzten Sommer habe ich halt so einiges mitbekommen ...«
»Ja?«
»Ich glaube, dass Bettina ein Verhältnis mit einem anderen Mann hatte. Sie und Kay haben sich mehrmals lautstark bei offenem Fenster gestritten. Es hörte sich so an, als ob sie ihn verlassen wollte. Alle reden immer nur von ihm! Ich meine, dass Kay Bettina dauernd betrügt. Aber Bettina war so oft weg und zu so komischen Zeiten, es gibt keine andere Erklärung für ihr Verhalten.«
»Die gute, anständige Bettina?«, fragte Verena ungläubig.
»Und wer war der andere Mann?«, wollte Pia wissen.
Agnes blickte unbehaglich von Verena zu Pia und wieder zurück.
»Nein, Agnes, nicht Malte!«, entfuhr es Verena.
»Es muss jemand aus der näheren
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