Kalter Mond

weiß nicht, wieso Sie mit diesem zweiten Opfer zu mir kommen. Da kriegen Sie doch eine vernünftige Zeitbestimmung vom Mageninhalt und der Körpertemperatur.«
    »Wir haben am zweiten Fundort noch etwas anderes entdeckt«, sagte Cardinal. »Das heißt, Arsenault.«
    Arsenault kramte noch eine Phiole hervor. Chin hielt sie ans Licht.
    »Eine einzige Puppenhülse?«
    »Das war nicht eine von vielen. Sie lag zwei bis drei Meter von der Leiche entfernt.«
    »So weit?« Chin öffnete die Phiole und ließ die winzige Hülse auf einen Objektträger gleiten. »Manchmal können Maden ganz schön weit vom Fleisch wegspringen«, sagte er. »Aber das hier ist keine Käsefliege. Und Ihre zweite Leiche lag nicht in der Nähe von Wasser, richtig?«
    »Richtig. Mindestens in einer Reichweite von einer Meile kein See und kein Bach.«
    »Das ist eine Hülse von einer
Cynomyopsis
, dritte Erscheinungsform. Davon hatten Sie eine Menge an Ihrer erstenLeiche. Aber bei Ihrer zweiten haben Sie nichts Älteres als die erste Erscheinungsform, und sie ist noch nicht alt genug, um
Myopsis
anzuziehen. Diese Hülse stammt unmöglich von Ihrer zweiten Leiche.«
    »Ja!« Arsenault stieß triumphierend den Ellbogen vor wie ein Sportfan beim Sieg.
    »Moment mal«, sagte Cardinal. »Verstehe ich Sie richtig, dass diese Hülse nicht vom zweiten Opfer stammen kann?«
    »Ja.«
    »Ich verstehe aber noch nicht, wieso das beweisen soll, dass sie jemand vom ersten Opfer mitgeschleppt hat.«
    »Tut es auch nicht«, sagte Chin. »Jemand kann sie auch von woanders mitgeschleift haben. Von anderem verwesendem Fleisch – einem toten Tier zum Beispiel. Ein Jäger, ein Wanderer, wer weiß?«
    »Das finde ich jetzt aber deprimierend«, beklagte sich Arsenault. »Wollen Sie mir etwa sagen, diese Hülse hat nichts zu bedeuten?«
    »Die kann sogar sehr viel bedeuten«, sagte Chin. »Nur kann ich das nicht entomologisch beweisen.«
    »Das ist ja echt Scheiße«, sagte Arsenault. »Ich hab gedacht, das wär ganz was Wichtiges.«
    »Was dagegen, wenn ich sie mir mal ansehe?«, sagte Filbert. »Nur für ein, zwei Tage?«
    »Wozu?«, sagte Chin. »Wir haben die Art doch schon bestimmt.«
    »Überlassen Sie mir die für einen Tag oder so. Möglicherweise kann ich helfen.«
    »Selbst wenn es uns nicht entscheidend weiterbringt«, sagte Arsenault, »ist dieser kleine Kerl trotzdem Beweismaterial. Ich muss Sie dafür eine Empfangsquittung unterschreiben lassen, und ich muss den Kühlschrank sehen, in dem Sie sie verschließen.«
    Danach verabschiedeten sich Cardinal und Arsenault bald.
    Auf dem Weg zum Wagen sagte Arsenault: »Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass irgendein Wanderer gerade zufällig da vorbeikam und mal eben so diese Made an unserem Leichenfundort hinterlassen hat?«
    »Gering«, sagte Cardinal. »Nicht auszuschließen, aber gering.«
    »Es ist nicht ungewöhnlich, dass Mörder an den Tatort zurückkehren. Vielleicht wollte er was holen, etwas, das er verloren oder vergessen hatte. Verflucht, im Fall Wombat, mit all diesen Verstümmelungen, könnte der Mörder sich noch weitere Körperteile geholt haben.«
    »Es gäbe noch eine Möglichkeit«, sagte Cardinal.
    »Ach ja?«
    »Nishinabe Falls hat ihm einmal genutzt. Er könnte ein zweites Mal dorthin gegangen sein, um wieder zu töten.«
    »Aber Toof wurde drüben am West Rock ermordet.«
    »Ich meinte auch Terri Tait.«

38
     
    N ach gängiger Vorstellung ist ein Drogenabhängiger ein Mensch, der seine Tage mit endlosen Plänen zubringt, wie er an den nächsten Schuss kommt. Nass geschwitzt, mit wildem Blick und keuchendem Atem verkriecht er sich in einer verzweifelten Ecke. Unter schweißgetränkten Decken, die Finger um ein Telefon gekrallt, geht der Junkie hektisch seine einschlägigen Telefonnummern durch. Und wenn man ihm dort keinen weiteren Kredit gewährt, wählt er Freunde an, mit denen er seit Jahren keine Verbindung mehr hatte, um sie anzupumpen, natürlich mit Zins zurückzuzahlen. Dann kalkuliert er blitzschnell, was er verkaufen könnte – den Ghettoblaster? Seine gesamten CDs? – vorausgesetzt, es gibt noch was zu verkaufen. Sind alle weltlichen Güter dahin, ist die Stadt groß genug und der Süchtige attraktiv genug, verkauft er als Nächstes vielleicht seinen Körper. Ist der Marktwert allerdings eher bescheiden, beginnt seine Phantasie um Diebstahl zu kreisen. Und so besucht er womöglich ganz spontan – hatte gerade in der Gegend zu tun – einen Verwandten, alten