Kalter Mond
Freund oder auch Pechvogel von flüchtigem Bekannten. Sobald ihm das ahnungslose Opfer den Rücken kehrt, verschwindet dann ganz plötzlich ein Radio, eine Armband- oder andere Uhr oder ein silbernes Souvenir in der gähnenden Leere des mitgebrachten Rucksacks.
Tatsächlich sehen sich viele Junkies zu solchen Maßnahmen gezwungen. Doch die allermeiste Zeit denkt die Mehrheit von ihnen nicht über die Frage
Wie komme ich an den nächsten Schuss?
nach. Schließlich dreht sich ihr Leben bereits um den Schuss, er ist fester Bestandteil ihres Alltags.
Nein, mehr als an irgendetwas sonst denkt der Süchtige daran, wie er aufhören wird. Solche Phantasien beschäftigen ihn vor allem morgens. Heute werde ich noch meine Pfeife rauchen, mir noch diese Vene voll pumpen, diese Flasche leeren, und dann gleich von morgen früh an – ach so, nein, diesmal sieh zu, dass dieses Entzugsprogramm vernünftig und machbar ist, nicht wie die früheren Versuche – nächsten Montag also.
Ich gebe mir noch dieses eine Wochenende, und Montagmorgen fang ich mit dem Zwölf-Schritte-Programm an und leg mir was von dieser bodenständigen Weisheit zu, die die Typen verkaufen, lass mich umdrehen, krieg einen klaren Kopf. Wird nicht leicht werden, aber am Montag bin ich so weit. Ja, so machen wir’s. Montag legen wir los.
So vergehen Tage und Wochen. Der Süchtige sieht sich längst auf einem Kurs der Mäßigung bis zu völliger Abstinenz, der ein Leben zenhafter Loslösung und Gelassenheit folgt. Das übrige Leben ist dann von behaglicher – nicht dumpfer – Wunschlosigkeit geprägt. Der Tag wird kommen, an dem der Anblick eines Häufchens weißen Pulvers keinerlei Emotionen mehr weckt, wo sich angesichts einer Nadel nichts in ihm regt.
So stand es um Kevin Tait. Seine letzte Phase des schrittweisen Entzugs hatte ihn vom Schnupfen zum Skin-Popping und nun wieder zum Fixen geführt, und dies so schnell, als hätte er seine Maschinen auf Volldampf voraus in die Selbstzerstörung gestellt. Dieses Grundmuster zog sich so ziemlich seit der Highschool durch sein Leben.
Er wusste, woher es kam, dieses Loch in ihm, das scheinbar nur Heroin stopfen konnte. Im Alter von zehn war er Waise geworden, und von da ab war nichts mehr dasselbe gewesen, sosehr sein Onkel und seine Tante, die ihn und seine Schwester aufnahmen, ihr Bestes versuchten. Es war, als wäre ihmder Boden unter den Füßen weggezogen worden und er durfte nichts und niemandem mehr trauen.
Für Terri war es offenbar okay; sie war fünfzehn gewesen, als es passierte. Sie hatte sich scheinbar gleich eingefügt. Kevin dagegen war immer schwieriger geworden, und seine neuen Eltern disziplinierten ihn ständig, mit Hausarrest, mit Fernsehverbot, mit Taschengeldentzug, irgendwas war immer. Terri versuchte unentwegt zu vermitteln, die Reaktionen ihrer Ersatzeltern abzumildern. Und ebenso unermüdlich versuchte sie, ihn dazu zu bewegen, dass er sich besser benahm. Es schien, als habe sich das ganze Muster ihres Lebens in eine Art Schicksalsbuch unauslöschlich eingraviert, als ihre wirklichen Eltern sich im Steilflug in den Boden rammten.
Manchmal war Kevin sauer auf seine ältere Schwester, weil sie den Verlust offenbar heil überstanden hatte; ihr Leben war im Vergleich zu seinem leicht und unbeschwert. Terri hatte es durchs College geschafft und erkämpfte sich allmählich ihren Platz in Vancouvers Theaterwelt. Kevin hatte das College geschmissen, zumal er annahm, dass ein Universitätsabschluss für eine Karriere als Dichter nicht viel zählte. Außerdem war es ziemlich schwierig, sich auf Shakespeare und John Donne zu konzentrieren, wenn man dem nächsten High entgegenfieberte. Kurz nachdem er ausgestiegen war, hatten sie ihn mit so viel Heroin verhaftet, dass es für zehn gereicht hätte.
Bis jetzt war es ihm gelungen, seine erneute vollständige Abhängigkeit vor Leon und Red Bear zu verbergen. Er trug stets lange Ärmel und spritzte sich nur mitten in der Nacht. Na schön, konnte vorkommen, dass er mal zwischendurch aufs Klo verschwinden und eine kleine Boosterdosis setzen musste, damit er für den Rest des Tages ansprechbar war. Doch außer an dem Tag, als Toof ermordet wurde, gestattete er sich vor Mitternacht keine volle Ladung.
Bis jetzt hatte er es ganz gut geschafft, es für sich zu behalten,aber Verstellung ist schließlich das Erste, was ein Süchtiger lernt. Es war nur eine Frage der Zeit, das wusste er, bis er auffliegen würde, und das hieß, er musste verduften, was er
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