Kalter Mond
sagte, die Unterlippe vor, wie ein Kind, das Schimpfe bekommen hatte. Eine Menge Mädchen fanden Kevins jungenhafte Art charmant. Terri konnte das einigermaßen nachvollziehen. Dieses lockige Haar – dunkel, nicht rot wie ihres. Kevin sah aus wie ein Junge, der sich auf ein Baseballspiel freut oder eine Nacht am Pokertisch, zuweilen auch, als könnte er jeden Moment einen Frosch aus der Tasche ziehen. Unglücklicherweise ging der Lausbubencharme mit erheblicher Unreife einher. Er hatte bereits zwei Jahre in einer Besserungsanstalt hinter sich. Falls er beim Dealen erwischt wurde, dann würde er für lange, lange Zeit aus dem Verkehr gezogen. Es war völlig undenkbar, der Polizei gegenüber seinen Namen zu erwähnen, egal, wie nett sie zu ihr waren.
Das Lager, so hatte Kevin die Lichtung mit den Hütten genannt, die er draußen am See mit anderen teilte. Offenbar war es früher einmal ein Sommer-Camp für behinderte Kinder gewesen. Irgendwann einmal waren die Hütten vielleicht weiß gewesen, doch jetzt waren es abgeblätterte, verfallene, elende Quartiere, die so eben vor den Mücken schützten. Er trieb einen Schlüssel für die Hütte neben seiner auf und sagte, Terri könne da schlafen, wenn auch nur für ein paar Nächte. RedBear sähe Fremde nicht so gern, selbst Familienangehörige nicht.
»Ist das nicht toll?«, hatte Kevin gesagt und mit der Hand auf den See gedeutet, auf das überwucherte Baseballspielfeld. »Ist das nicht phantastisch? Sieh dir den See an, Ter, der ist riesig. Letzte Woche sind wir mit dem Boot rübergefahren, und es hat ungefähr eine Stunde gedauert, obwohl wir richtig schnell gefahren sind. Du solltest mal die Sterne von da draußen sehen. Unglaublich.«
»Ihr seid nachts mit dem Boot rausgefahren? Wieso?«
»Weiß nicht, hat Spaß gemacht. Komm schon, Terri, du musst zugeben, dass es ziemlich cool ist, den Sommer über ein ganzes Lager für sich zu haben.«
Alles, was Terri an den windschiefen Hütten und dem steinigen kleinen Strand entdecken konnte, war die deprimierende Atmosphäre eines verlassenen Ortes. Es erinnerte sie an Fotos aus der Depression, die sie mal gesehen hatte.
Und was für eine seltsame Mischung von Leuten, die hier lebten. Kevin und Red Bear und der beschränkte Junge mit dem ulkigen Zahn. Es sollte noch einen Typen geben, dem sie nie begegnet war. Kevin hatte keinen von ihnen je in seinen sporadischen E-Mails erwähnt, eine Tatsache, die sie vom ersten Moment an gegen seine neuen Freunde misstrauisch machte.
»Meinst du nicht, dass es für euch vier ein bisschen viel Platz zum Wohnen ist?«, hatte sie gesagt. »In all den Hütten könntet ihr vierzig unterbringen.«
»Nee«, hatte Kevin gesagt. »Die meisten sind kaputt. Es gibt nur noch vielleicht sechs, die bewohnbar sind.«
»Trotzdem. Vier Kerle.«
Kevin hatte sie mit zur größten Hütte genommen, der von Red Bear. Sie stand in einem Birkenwäldchen, ein Miniaturhaus mit Zedernverkleidung und einem breiten Fenster zumSee. An der Decke hingen Fliegenfänger, an denen winzige Kreaturen das letzte Surren ihres Lebens von sich gaben.
Red Bear war ganz und gar charmant gewesen. Oder besser gesagt, wäre das, was er tat und sagte, charmant gewesen, wenn nicht alles ein wenig … übertrieben geklungen hätte.
»Ja, Kevin hat mir viel über Sie erzählt«, sagte er. Sein Lächeln war reines Schmierentheater. Diese Zähne. »Er hat mir erzählt, Sie wären die perfekte Schwester, und jetzt sehe ich, wieso.«
Also, das zum Beispiel, das klang gelogen. Es sah Kevin überhaupt nicht ähnlich, so etwas über sie oder irgendjemanden sonst zu sagen.
Red Bears Handschlag war trocken und fest. Er war nicht sehr groß, hatte aber breite Schultern, was ihm den Ausdruck von Kraft verlieh. Sein Haar war so schwarz, dass es wie Krähenfedern einen bläulichen Schimmer hatte, und es setzte sich geradezu funkelnd von seinen Kleidern ab. Sein Hemd war so weiß, dass man fast eine Sonnenbrille brauchte, um ihn anzusehen.
»Kommen Sie, ich leg Ihnen die Karten«, sagte er. Er bot ihnen Stühle an einem großen Kieferntisch an und machte sich daran, die Karten in interessanten Mustern auszulegen.
»Karo-Ass«, sagte er. »Das ist perfekt. »Ganz und gar rosige Aussichten für Sie, Terri.«
Sich den Namen einer neuen Bekanntschaft zu merken galt als Zeichen von Höflichkeit, doch Red Bears Art, davon Gebrauch zu machen, bereitete ihr Unbehagen.
»Die finanziellen Aussichten sind günstig. Gesundheit ausgezeichnet.
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