Kalter Mond
weiß ich – und tu nichts anderes als schreiben und in der Sonne braten.«
Manchmal war es Tanger. Manchmal auch Marrakesch. DieIdee mit Griechenland hatte er von Leonard Cohen. Er schleppte seit Jahren eine dicke Biografie mit sich herum.
»Kannst du allen Ernstes behaupten, du hättest keine Angst vor Red Bear? Findest du ihn nicht gefährlich?«
»Ich will nicht darüber sprechen. So schlimm ist er gar nicht mal.«
»Ich denke, er ist irre.«
»Ich weiß ihn zu nehmen.«
»Red Bear ist nicht jemand, den irgendjemand zu
nehmen
weiß, Kevin. Hast du nicht seine Augen bemerkt? Diese Augen sind wie tot, Kevin. Dahinter gähnt eine Leere – jedenfalls ist da kein Herz. Nichts Echtes. Deshalb trägt er ständig die Sonnenbrille. Er will nicht, dass jemand seine Augen sieht.«
Kevin schaut zu ihr hinüber, als er wegen eines Wal-Mart-Lasters langsamer fahren muss.
»Hör zu, Terri. Du bist meine Schwester, nicht meine Mutter. Das steht dir nicht zu. Du hast kein Recht, mir zu sagen, was ich tun und lassen soll. Wie ich mein Leben führen soll.«
»Mir geht’s erst mal darum, dass du ein Leben
hast
, Kevin. Glaubst du, mir macht es Spaß, dir hinterherzujagen? Glaubst du, ich wär darauf versessen, für dich den Anstandswauwau oder deine Gouvernante oder so was zu geben? Ich vermisse meine Arbeit, ich vermisse den Schauspielunterricht, ich hab zwei Vorsprechtermine – glaub mir, Kevin, ich hab Besseres zu tun, als dir quer durchs Land zu folgen, um dir eine verfluchte Nadel aus dem Arm zu ziehen.«
»Dann tu das alles, Terri, bitte! Geh nach Vancouver zurück und arbeite, spiele! Und lass mich verdammt noch mal in Ruhe!«
»Das kann ich nicht. Du bringst dich selber um – ob mit einer versehentlichen Überdosis oder in irgend so ’nem idiotischen Bandenkrieg mit Red Bear und seinen Freunden –, dubringst dich um. Und ich werde nicht dastehen und zusehen. Wieso fährst du ran?«
Da sind sie auf dem Highway, und er schert aus und hält auf dem Schotterbankett. Mehrere Autos schießen mit einem Hupkonzert vorbei.
»Kevin, was machst du da?«
»Nimm du den Scheißwagen. Ich laufe in die Stadt zurück, wo mir die Leute nicht vorzuschreiben versuchen, was ich zu tun und zu lassen habe.«
»Kevin, lass das. Kevin, warte!«
Sie springt aus dem Wagen und folgt ihm ein Stück, und der Staub vom Highway brennt ihr in den Augen. Kevin geht schnell, stakst mit langen Schritten, steifem Rücken und hochgezogenen Schultern davon. Wenn er seinen Panzer angelegt hat, ist mit ihm nicht zu reden.
Vorspann Nummer drei: Sie ist sich nicht sicher, ob das noch am selben Tag passiert ist oder ein paar Tage später. Sie ist in der »Gästehütte« und stopft Sachen in ihren Rucksack. Sie hat rasendes Herzklopfen, und sie will nur weg. Kevin ist irgendwo hingegangen, und sie weiß, sie muss auf der Stelle aus dieser Hütte raus, aus dem Lager. Ihr zittern die Hände so stark, dass sie den Reißverschluss nicht zubekommt. Die Tür geht auf, kein Klopfen oder so, und ihr entfährt ein Schrei.
Red Bear steht im Eingang, eine schwarze Silhouette gegen das Rechteck aus Tageslicht. Sie lässt den Rucksack fallen, bückt sich, um ihn wieder aufzuheben, lässt ihn wieder fallen.
»Es wird Zeit, dass Sie gehen«, sagt Red Bear in nicht unfreundlichem Ton.
»Ich weiß, ich weiß. Ich packe gerade meine Sachen.«
Sie macht einen Schritt hinter ihre Koje, weil sie instinktiv eine Barriere zwischen sich und Red Bear braucht. »Ich lass mich von Kevin in die Stadt mitnehmen.«
»Kevin ist nicht da. Kevin kommt so schnell nicht zurück.«
»Dann nehm ich eben den Bus.«
»Hier gibt es weit und breit keinen Bus. Ich lass Sie fahren.«
»Nein, nicht nötig. Ich fahr per Anhalter.«
»Das kann ich nicht zulassen.« Red Bear nimmt seine Sonnenbrille nicht ab, doch sie weiß, dass er sie von oben bis unten betrachtet. »Sie könnten vergewaltigt werden. Sind Sie schon mal vergewaltigt worden, Terri?«
Terri hat keine Antwort darauf. Die Antwort ist negativ, doch es wird keine Antwort von ihr erwartet.
Red Bear bleibt reglos im Türrahmen stehen.
»Ich hab nichts gesehen«, sagt sie. »Ich hab nichts gesehen. Ich hab nicht vor, mit irgendjemandem zu reden.«
»Selbstverständlich nicht. Das wäre schlecht für Kevin. Und wir wollen doch beide nicht, dass Ihrem Bruder was passiert?«
Dann war er aus dem Eingang verschwunden.
Aber was hatte sie gesehen? Und wie war sie aus dem Lager fortgekommen? Daran konnte sie sich nicht
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