Kalter Schlaf - Roman
an, die sie in die Schachtel zurücklegte. Eine Aufnahme von Maisie als Kleinkind von einer körperlosen Hand gehalten auf einem Schaukelpferd. Eine andere von Maisie in ihrer ersten Schuluniform – damals noch mit Strohhut. Ein Foto von Kate und Kevin. Sie warf es zu den anderen in die Schachtel.
Das nächste Stück war die Gottesdienstordnung für das Begräbnis von Kates Mutter. Dann eine übrig gebliebene Einladung zu Maisies Taufe mit dem Foto eines dicken, lachenden Säuglings. Die Speisekarte eines Silvestermenüs im Restaurant Simpson’s. Kate lief ein kleiner Schauder über den Rücken. Ein wundervoller Abend, an dem sie leider zu viel getrunken hatte.
Sie begutachtete das letzte Stück – ein Theaterprogramm. Diese Aufführung hatte sie sich mit Celia angesehen. Sie las die Liste der Personen und ihrer Darsteller, dann überflog sie die Zusammenfassung: »… für Garry ist nur sein Ego wichtig … introvertierter Infantilismus … seine Lebensauffassung … tun und lassen, was einem gefällt.« Sie ließ das Programm in die Schachtel fallen und legte den Deckel darauf.
Kate trat an die Fenstertür zum Garten, betätigte den Hebel, der sie entriegelte, und stieß sie auf. Als die Flügel sich lautlos öffneten, horchte sie nach draußen und erwartete fast, das Glöckchen zu hören, das Mugger ankündigen würde. Nichts. Sie wandte sich ab. Das würde sie Maisie schonend beibringen müssen.
Sie ging in die Diele, legte eine Hand aufs Treppengeländer hob den Kopf und rief:
»Maisie? Maisie! Gleich gibt’s Abendessen.«
Die Musik verstummte, und sie hörte, wie eine Tür geöffnet wurde. Kate ging in die Küche zurück, deckte den Tisch fertig und trat an das große Kochfeld. Binnen zwei Minuten trug sie Teller mit dampfender Pasta durch die Küche.
»Mai… oh, da bist du.« Sie stellte die Teller auf Tischsets und nahm Platz.
Maisie setzte sich schweigend ihr gegenüber hin. Kate spießte Nudeln auf.
»Wie war dein Studiennachmittag?«
Schweigen.
»Hast du heute Morgen mit Professor Denton über Integralrechnung gesprochen?«
»War nicht nötig. Die kann ich.« Maisie stocherte lustlos in ihrer Pasta herum.
Kate musterte sie prüfend. »Was hast du?«
»Nichts«, murmelte Maisie.
Kate betrachtete ihre Tochter genauer. »Du siehst nicht sehr gut aus.« Sie beugte sich zu Maisie hinüber, legte die Finger behutsam auf ihr gerötetes Gesicht.
Maisie bog den Kopf zurück. »Mein Gott, Mom, lass mich … einfach in Ruhe!«
Kate war überrascht, als Maisie ihre Gabel auf den Tisch warf, den Stuhl zurückstieß und laut schniefend zur Küchentür lief. Sie blieb sitzen, sah Maisie nach und erwog mehrere Möglichkeiten. Vermutlich Streit mit Chelsey. Sie konzentrierte sich wieder auf die Pasta. Mit ihrer Tochter würde sie später reden.
Das Telefon klingelte. Kate stand vom Tisch auf und ging in die Diele hinaus. Muss mir ein Telefon in die Küche legen lassen, dachte sie, als sie den Hörer abnahm.
»Hallo?«
»Kate?«
Bevor sie antworten konnte, sprach die Anruferin atemlos weiter.
»Hier ist Candice. Ist Chelsey bei euch?« Sie klang ungewohnt drängend.
»Nein, Candice. Maisie ist oben in ihrem Zimmer – allein. Soll ich …«
»Die beiden waren heute Nachmittag nicht in der Schule. Das weiß ich von Miss Silva, die ich vorhin angerufen habe. Jetzt ist es nach halb sieben, und Chelsey ist noch nicht zu Hause.«
Kates Gesicht wurde ernst. »Candice, kann ich zurückrufen, sobald ich mit Maisie gesprochen habe?«
Sie legte den Hörer auf, wollte ihre Tochter rufen und entschied sich dann doch anders. Sie lief nach oben und klopfte an Maisies Tür.
Eine gedämpfte Stimme fragte: »Was?«
»Maisie, ich muss reinkommen und mit dir reden.«
Keine Antwort.
Kate öffnete die Tür. Maisie lag zusammengerollt auf ihrem Bett. Sie durchquerte das Zimmer, setzte sich auf die Bettkante und legte ihrer Tochter eine Hand auf den Oberarm.
»Du musst mir sofort erzählen, was los ist, Maisie.«
Keine Antwort, nur ein gedämpftes Schluchzen.
»Komm jetzt, Maisie. Candice hat gerade angerufen. Chelsey ist nicht heimgekommen.«
Maisie setzte sich laut schluchzend auf, dann brach ein Wortschwall aus ihr hervor, der Kate erstarren ließ.
»Wir waren im … Fallen … Angel … und Chelsey hat ihn gesehen … er war … bei uns in der Schule … er ist Theaterregisseur … hat gesagt … sie bekäme eine Rolle … und dann ist sie …« Maisie machte eine Pause, holte bebend Luft. »In seinem
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