Kalter Schlaf - Roman
an sie. Sie legte den Arm um ihre Tochter und zog sie enger an sich. Maisie hatte nur Augen für Sandra Bullocks glattes Gesicht.
»Mom?«
»Hm?«
»Würdest du dir jemals Botox spritzen oder dich liften lassen?«
Kate betrachtete ihre Tochter, dann den Bildschirm, dann wieder ihre Tochter.
»Das hängt davon ab, wie schwierig die nächsten paar Jahre werden.«
Maisie grinste. Einige Minuten vergingen.
»Mom?«
»Hm …?«
»Leihst du mir dein Top von Abercrombie?«
Kate stellte sich das Kleidungsstück kurz vor. Nicht tief ausgeschnitten. Nicht hauteng. Nicht durchsichtig.
»Ja.« Mach’s nicht kaputt.
Maisie fragte sich, wie ihre Mutter reagiert hätte, wenn sie erzählt hätte, sie wolle sich die Haare färben. Schwarz. Wie Sandra Bullock. Sie verfolgte die Handlung. Wow! Echt coole Dialoge.
Auch Kate war in Gedanken woanders. Sie dachte darüber nach, wie wahrscheinlich weitere Opfer waren.
Und über die »Graduierung« von Straftätern.
19
Kate war um sieben Uhr vollständig angezogen und klopfte an die Tür von Maisies Zimmer.
»Maisie?« Sie öffnete die Tür und betrat den Raum, auf dessen Boden wie üblich Chaos herrschte. »Bist du wach?«
»Geh weg«, antwortete ihre Tochter, von der nur Locken und die Umrisse eines Körpers unter der Steppdecke zu sehen waren.
»Maisie, hör mir bitte zu. Ich muss heute früher in die Universität. Phyllis kommt um acht, ja? Ich schreibe ihr auf, dass sie dich daran erinnern soll, hier aufzuräumen, bevor du in die Schule gehst.«
Keine Antwort.
»Wer holt dich heute ab?«
Noch immer keine Antwort.
»Maisie!«
»Was?«
»Ich habe gefragt, wer …«
»Chelseys Mom.«
Kate sah seufzend auf ihre Uhr. Sie musste endlich darauf bestehen, dass sie die Mädchen abwechselnd in die Schule brachten. Am besten rief sie Chelseys Mutter später an. Sie begutachtete das Chaos noch mal und seufzte.
Zeig mir eine berufstätige Mutter, alleinerziehend oder nicht, und ich sage dir ihren zweiten Vornamen – mit S beginnend.
S wie »Schuldgefühle«.
»Höchste Zeit, dass du aufstehst. Ich fahre in zehn Minuten.«
Kate verließ das Zimmer, ging nach unten und schrieb hastig ein paar Zeilen für Phyllis – mit mehreren doppelt unterstrichenen Wörtern. Dass ihre Haushälterin mit Maisie fertigwerden würde, bezweifelte sie nicht. Schließlich hatte Phyllis selbst zwei Söhne und zwei Töchter liebevoll, aber streng großgezogen.
Kate blickte über die Reihen der vor ihr sitzenden Studenten, während sie darauf wartete, dass sie mit dem Mitschreiben fertig wurden. Die PowerPoint-Präsentation hatte sie diesmal selbst vorbereitet, was sie gern getan hatte, weil Julians Abwesenheit bedeutete, dass er in diesem Augenblick im Büro der KUF die landesweite Datenbank der Polizei, PNC , nach weiteren jungen Frauen durchsuchte, die im vergangenen Jahrzehnt in Birmingham und Umgebung als vermisst gemeldet worden waren.
Zum Abschluss ihrer Vorlesung am Dienstagmorgen ermahnte Kate ihre junge Hörerschaft, keinesfalls die Ausdrucksweise und Vorstellungen von Mehrfachmördern in Hollywood-Filmen zu übernehmen.
»Sie basieren auf einer Idee von wiederholten Verbrechen, die keiner Qualitätsbewertung standhalten. Ich würde es sehr begrüßen, wenn das Etikett ›Serienkiller‹ und die Einordnung in ›organisierte‹ und ›chaotische‹ Tatorte verschwänden. Das sind banale Ausdrücke geworden, mit denen wir uns zu leicht zufriedengeben, weil Film und Fernsehen sie verwenden. Wir müssen uns davor hüten, Mehrfachmorde nach ihrem Unterhaltungswert zu beurteilen.«
Sie sah jetzt vor allem die vor ihr sitzenden Studentinnen an. »Zu den Problemen, die Mord als Mittel der Unterhaltung aufwirft, gehört die Tatsache, dass wir so gut damit vertraut sind, dass er wenig oder keinen Einfluss auf unser Leben hat. Ein Film über einen Serienmörder bewirkt nicht, dass wir im Alltag vorsichtiger leben. Das war nur Unterhaltung, stimmt’s? Wir machen wie bisher weiter, ohne jemals ernstlich an unserer Sicherheit zu zweifeln. Weshalb denn auch, wenn wir alles nur auf Bildschirm oder Leinwand erleben? Oder wenn es an uns liegt, die Story zu Ende zu lesen oder das Buch zuzuklappen? Aber die Realität der Bedrohung ist da. Sie lauert unbeachtet im Hintergrund.«
Während ihr Blick über die vor ihr sitzenden, jungen Menschen wanderte, von denen die meisten in Mollys Alter waren, unterstrich sie ihre auf eigenen Recherchen basierende, wichtige Erkenntnis, dass die Polizei es oft
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