Kalter Schlaf - Roman
sie die Klappe und ging zu dem großen Mahagonischreibtisch am Fenster hinüber.
Wie in Mollys Zimmer hatte Kate hier das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben. Auf dem Schreibtisch lag eine Ausgabe von Private Eye . Sie blätterte darin. Ein Artikel, der Mohamed Al Fayeds »Verschwörungstheorie« zerpflückte. Ein weiterer über den G8-Gipfel in Birmingham mit Anspielungen und Witzeleien auf Kosten der Stadt. Kate sah nach dem Datum. Juni 1998. Alles von den Ereignissen überholte soziale und politische Kommentare.
Über dem Schreibtisch hing ein Terminplaner. Kate beugte sich nach vorn, um die Eintragungen zu lesen. Ein paar Geburtstage. Ein Tag im September, an dem Janet ihr Studium an der University of Sheffield aufnehmen wollte. Zwei Friseurtermine im Mai, beide durchgestrichen, also vermutlich eingehalten. Tage mit Uhrzeiten und Eintragungen wie M. B. oder G. S. – vermutlich die abgekürzten Namen von Leuten, mit denen Janine sich hatte treffen wollen. Sie schrieb sie in ihr Notizbuch.
Sie dachte wieder an Molly James’ Freunde. Würde die KUF die Familie Wellings in Bristol aufspüren müssen, bevor sie diese neuen Ermittlungen abschließen konnte? Als sie sich erneut auf die Termine konzentrierte, fiel ihr eine Eintragung auf, die sich Monat für Monat wiederholte. Kate begriff sofort, was das bedeutete.
So viele gemeinsame Erlebnisse, die Janine und ihre Eltern nie mehr haben würden.
Kate verließ langsam das Zimmer, in ihre Analyse von Janines Persönlichkeit, wie sie sich hier zeigte, versunken. Sie überquerte den Flur und betrat das häusliche Büro, in dem Mr. Walker mit Joe sprach.
»… und wir erzielen noch immer Treffer. Natürlich viel weniger als in den ersten Jahren, aber doch einige, wenn eine Zeitung oder Zeitschrift die Story erneut aufgreift. Wegen dieser neuen Entwicklung, der Wiederaufnahme Ihrer Ermittlungen, rechnen wir mit einer starken Zunahme. Janine war eine unwiderstehliche junge Frau.«
Das klang erstaunlich gelassen. Janines Vater sah alles viel positiver, fand Kate, als sie sich jemals hätte vorstellen können, wenn sie in seiner Lage gewesen wäre. Mrs. Walker nickte zustimmend.
»Janine war etwas Besonderes.« Sie sah von Joe zu Kate hinüber. »Das sagen alle Eltern von ihren Kindern, nicht wahr? Aber das war sie wirklich. Ihr war alles in die Wiege gelegt worden, wissen Sie. Nicht von uns. Sie war schön, intelligent, voller Pläne, voller … Leben. Sie hatte so viel zu geben.« Kate und Joe hörten schweigend zu. Für sie gab es nichts zu sagen.
Der kleine Raum, in dem sie standen, kündete von der Entschlossenheit, mit der die Walkers ihre verschwundene Tochter gesucht hatten. An den Wänden sah Kate »Vermisst«-Plakate mit Janines Foto und Handzettel für mehrere Spendenaktionen, mit dem Ziel, das Andenken an Janine wachzuhalten. Viele waren verblasst, trugen Daten, die einige Jahre zurücklagen. Eine Pinnwand aus Kork war mit mehreren Lagen von Zeitungsausschnitten bedeckt, die über Aufrufe im Fernsehen oder Sendungen über den verschwundenen Teenager berichteten. Kate dachte an das emotionale Engagement über all diese Jahre hinweg. Die persönlichen Opfer.
Als Joe danach fragte, bestätigten beide Eltern, Janine habe zum Zeitpunkt ihres Verschwindens keinen festen Freund gehabt. Sie hatte sich ganz auf den Umzug nach Sheffield und den Beginn ihres Studiums konzentriert. Sie hatte allem Anschein nach keine Sorgen gehabt und war voller Hoffnungen und Pläne gewesen.
Mr. Walker sah erst Kate, dann Joe an. »Wir haben immer gewusst, dass unsere Tochter entführt worden war«, sagte er ruhig. »Wir wollen … die Polizei nicht kritisieren. Vor allem jetzt nicht. Aber die Ermittler haben damals nicht akzeptieren wollen, was geschehen war. Sie haben immer wieder nach einem Freund gefragt … aber sie hatte keinen.«
Kate nickte mitfühlend, war innerlich wütend auf Furman.
»Janine ist aus unserem Leben gegangen. Ich habe sie dabei beobachtet. Josh, der kleine Hund, den sie damals hatte, ist ihr nachgelaufen. Sie wollte ihn nicht mitnehmen, also habe ich ihn zurückgeholt und ihr zugewinkt, als sie um die Ecke gebogen ist …«
Danach herrschte sekundenlang Schweigen, bis Mr. Walker fragte, ob sie noch einen Kaffee wollten. Bevor sie das Büro verließen, fragte Joe ihn nach dem Namen des Nachbarn, der ausgesagt hatte, er habe Janine nicht gesehen.
»Howard Kingsley.«
»Wohnt er noch …« Joe brachte die Frage nicht zu Ende, weil Mr. Walker den Kopf
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