Kalter Schmerz
Ich nahm an, der wahre Grund war, dass er uns zu sehr an unser eigenes Versagen erinnerte, aber ich dachte nicht gerne darüber nach.
Sidneys Wagen hielt in der Einfahrt auf der anderen Straßenseite.
Es war halb fünf.
Ich merkte mir das Kennzeichen und schaute zu, wie Edies Sohn Scott mit einer Sporttasche zur Haustür ging. Er sah aus wie dreizehn, vierzehn und hatte dieselbe Körperhaltung wie seine Mutter. Sidney war groß, ein skandinavischer Typ mit kantigen Zügen. Von dem einzigen Treffen mit ihm vor ein paar Jahren in Edies Club hatte ich in Erinnerung, dass er für jemanden von seiner Statur eine ziemlich sanfte Stimme hatte.
Ich sah noch mal auf die Uhr, um auf Nummer sicher zu gehen. Ich war fast schon besessen von Uhrzeiten. Ging kaum anders in meinem Beruf – nichts war entscheidender als Timing.
Zwei weitere Minuten waren vergangen.
Es sah nicht so aus, als könnte man einfach in das Haus einbrechen. Irgendjemand würde mich reinlassen müssen, sonst müsste ich mir was anderes überlegen.
Ich startete den Motor und fuhr los.
6
Es graute mir davor, wieder zu dem Haus zu müssen, doch Pat ging nicht ans Handy, so dass ich keine andere Wahl hatte. Ich fuhr zu einer Tankstelle und aß ein Schinkensandwich – halb im Wagen, halb draußen. Als ich mein Bild im Rückspiegel sah, musste ich an meine Mutter denken: Dominic, so isst man nicht!
Ich müsste sie anrufen, dachte ich, doch diese Alibigeste würde nicht viel verändern. Ich hätte in vielerlei Hinsicht ein besserer Sohn sein sollen.
Ich legte den Rest des Sandwichs auf den Beifahrersitz und zündete mir eine Zigarette an. Als sie aufgeraucht war, zündete ich die nächste an und rauchte beim Fahren, CD-Spieler aus, Radio an, »Kürzungen im Bildungswesen«, schnippte Asche aus dem Fenster und dachte an die Narben an ihren Handgelenken. Clare wurde zu Emma, Emma wurde zu Blut, zu Dunkelheit, Unkraut und zerdrückten Pepsi-Dosen.
Als das Haus in Sicht kam, stieß ich die Luft aus, schaute kurz in den Rückspiegel und wandte den Blick genauso schnell wieder ab. Ich parkte, stieg aus, im Kopf halb ausformulierte Fragen, und ging, den Blick auf die Fenster gerichtet, zur Tür.
Ich drückte auf die Klingel und wartete.
Der Regen durchnässte meinen Mantel.
»Er ist nicht da.«
Das Leben war aus ihrem Gesicht gewichen – spröde Wangenknochen wie von Frischhaltefolie überzogen.
»Wann kommt er zurück?«, fragte ich.
»Normalerweise zum Essen. Sie können warten, wenn Sie wollen.«
Ich hätte lieber im Auto gewartet, doch es wäre unhöflich gewesen abzulehnen.
Die Luft war abgestanden, Staub schwebte in den Lichtstrahlen. In der Küche drehte sie sich zu mir um, und ihre Stimme war so schwer wie die Luft.
»Wollen Sie eine Tasse Tee oder so?«
»Ja, gern.«
»Und wie …?« Sie schluckte, die Worte kamen als abgehackte Seufzer heraus. »Wie trinken Sie Ihren …?«
Ich wollte sagen, es sei egal, aber sie weinte bereits. Scheiße, sie heult . Ich widerstand dem Drang, in Panik zu geraten, und machte unwillkürlich einen Schritt auf sie zu.
»Ähm …« Ich flehte mein Hirn an, sich etwas Passendes einfallen zu lassen, doch es kam nichts heraus. »Hey, kommen Sie.«
»Tut mir leid«, sagte sie mehrmals durch ihre Hände. »Es tut mir leid …«
Ich strich ihr über die Schulter, trat näher und legte den Arm um sie, bis die Tränen versiegten. Erst als sie sich halbwegs beruhigt hatte und ich mich von ihr löste, merkte ich, wie angespannt ich war.
»Tut mir wirklich leid«, wiederholte sie, setzte sich an den Esstisch und stützte die Stirn in die Handflächen. »Ich kann die ganze Zeit nur weinen, ich kann nicht … damit aufhören, es ist lächerlich.«
»Schon gut.« Ich verschränkte die Arme und grinste befangen. »Ich will eigentlich auch gar keinen Tee.«
Sie lachte oder verzog zumindest kurz die Mundwinkel.
Der Regen schlug in grauen Böen gegen das Fenster. Ich setzte mich zu ihr.
»War jemand da?«, fragte ich.
»Nur ein paar Freundinnen und Pats Kollegen, Leute, mit denen er arbeitet. Ich weiß nicht, was es sie angeht, ist ja nicht so, als hätte einer von denen sie wirklich gekannt …«
»Kann ich ein bisschen Luft reinlassen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie wollen.«
Ich stand auf und öffnete alle Fenster. In diesem Haus zu atmen war so, als inhalierte man Sand.
»Sie arbeiten also jetzt für Pat? Offiziell?«
»Ja.« Ich sprach mit der Arbeitsfläche vor mir. »Ich weiß, dass Ihnen das
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