Kalter Schmerz
ein liebes Kind.«
Sidney verzog die Lippen. »Hör auf, so über ihn zu reden.«
Ich nahm ihm die DVD s ab und schob sie in die freie Tasche.
»Wenn das nicht alle sind, komme ich zurück, das ist dir klar, oder?«
»Ich bin nicht dumm. Das sind alle.«
Ich ging um das Doppelbett herum und ließ ihn vor mir das Zimmer verlassen, hielt mich in sicherer Entfernung hinter ihm. Am Treppenabsatz blieb Sidney wieder abrupt stehen, ich nahm eine Abwehrhaltung ein.
»Weißt du, dass sie das Sorgerecht für Scott bekommt, wenn du diese Videos mitnimmst?«, fragte er und sah mir ins Gesicht.
Ich schluckte. »Soweit ich das sehe, habe ich damit nichts zu tun. Außerdem ist sie die Mutter.«
»Manche Frauen …« Er senkte den Blick auf seine Hände und schien Schwierigkeiten zu haben weiterzusprechen. »Sie ist ein toller Mensch, aber manche Frauen sind einfach nicht dazu gemacht, Mutter zu sein. Sie will ihn nicht wirklich haben, sie will ihn nur besitzen.«
Wir lauschten kurz dem Radio.
»Tja …« Mir fiel keine Antwort ein. Der tranceähnliche Zustand war fort, die DVD s in meiner Tasche waren unförmig. »Wie gesagt, das geht mich nichts an.«
»Jetzt schon.«
Ich machte einen Schritt zurück. Vor meinem inneren Auge sah ich, wie er mich am Jackenkragen packte und die Treppe runterschleuderte. Ich konnte den Aufprall spüren und wusste, dass ich zu nah war, um im Falle eines Falles reagieren zu können.
Der Moment verstrich.
Sidney drehte sich um und ging weiter.
»Hey, wie trinken Sie Ihren Kaffee?«, rief Scott aus der Küche, als er uns sah.
»Er muss gehen, Scottie.« Sidney stand in der Mitte des Wohnzimmers, zwischen mir und seinem Sohn, und starrte mich auf eine Art und Weise an, die mich zweifeln ließ, von wem Scott denn nun diesen einschüchternden Blick geerbt hatte. »Notfall auf der Arbeit.«
»Ja«, sagte ich und winkte. »Hat mich gefreut, Scott.«
»Oh … tschüss!«
Ich hatte mir schon Sorgen darüber gemacht, was er eventuell würde mit ansehen müssen. Ich mochte ihn.
Sidney verschränkte die Arme und ließ mich nicht aus den Augen, bis ich das Haus verlassen hatte. Ich hatte gedacht, es würde sich besser anfühlen, den Beweis erbracht zu haben, den ich brauchte, um Edie zu zeigen, dass man sich noch immer auf meine Professionalität und Integrität verlassen konnte. Doch als ich mich ins Auto setzte und die Scheiben auf den Beifahrersitz legte, war mein erster Impuls, alle DVD s zu zerbrechen.
22
Als ich zu Hause vorbeifuhr, um die DVD s wegzubringen, schaute ich wieder auf mein Handy und versuchte dabei, Tee aus einem Styroporbecher zu trinken. Ich hatte eine SMS und eine Mailboxnachricht.
Schon im Auto hatte ich überlegt, ob ich mir Clares Video noch einmal ansehen wollte.
Ich hastete die Stufen hoch und schloss zu schnell auf.
»Da ist aber jemand aktiv heute Morgen«, rief Mark zur Begrüßung aus seinem Schlafzimmer.
»Arbeitest du gar nicht mehr?«, gab ich zurück und holte Stift und Notizblock unter dem Sofa hervor.
Mein Laptop stand unter dem Couchtisch, ich klappte ihn auf, atemlos. Es dauerte eine Weile, bis er hochgefahren war, dann tippte ich den Link ein und wartete darauf, dass Mark verschwand und ich den Film runterladen konnte.
»Ich hab einen derart teuflischen Schädel … ist echt eine Heimsuchung.«
Seine Stimme war jetzt näher, ich sah mich um, und Mark stand mit einem Becher in der Hand in der Küchentür, trug nur Boxershorts und ein Kurt-Cobain-Shirt. Er war blasser als sonst und glänzte leicht verschwitzt vom Alkohol, sah in dem Zustand aber besser aus, als ich so je hätte aussehen können.
Als ich nicht reagierte, stöhnte er und rieb sich die Stirn.
»Willst du eine Paracetamol oder so?«, fragte ich, wohl wissend, dass er ablehnen würde.
»Nein, ich kämpf mich da so durch.«
»Dann hör mit der Heulerei auf.«
»Ich habe nicht behauptet, dass ich lautlos kämpfe.« Er fuhrsich mit der Hand durchs Haar und zog eine Grimasse. »Ich gehe duschen, dann reden wir über Weihnachten, ja?«
»Abgemacht«, sagte ich.
Er verließ das Zimmer mit einem kraftlos ausgestreckten Daumen, und ich grinste vor mich hin. Es musste ihm dreckig gehen. Es sah ihm so gar nicht ähnlich, dass er mich nicht fragte, was ich vorhatte. Ich wandte mich wieder dem Laptop zu und aktualisierte die Seite.
Zur Inspiration. Das war der Grund, warum ich es mir noch mal ansah. Ich hatte Lust, etwas zu malen.
Ich hörte, wie Mark sich im Badezimmer auszog und ein
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