Kalter Schmerz
Lied von Duran Duran sang.
Als Clare erneut auf dem Bildschirm erschien, skizzierte ich grob den Umriss ihres Körpers, doch dann zerknüllte ich das Papier und beschloss, stattdessen nur ihr Gesicht zu zeichnen. Das Adrenalin, das seit der Begegnung mit Sidney und Scott durch meinen Körper rauschte, wurde allmählich abgebaut.
Immer wieder sah ich hoch zum Video, es erinnerte mich daran, wie überraschend kräftig sie gewesen war. Sie verbarg es gut, mit ihrem koketten Lächeln und der zur Schau gestellten Anmut, aber dennoch hatte sie Kraft.
Ihre Augen zu zeichnen war einfach, weil nicht viel darin war. Finster glühten sie mir vom Blatt entgegen, lebensechter, als ich erwartet hatte.
Ich schielte zum Film hoch, der auf Wiederholung lief. Sie drehte sich gerade.
So sehr ich mir wünschte, der Auftrag wäre erledigt, es mir in einem Ausmaß wünschte, dass ich mich schon nach den Monaten vor jenem Telefonanruf zurücksehnte, hatte ich doch begonnen, in der Zukunft zu leben, mich auf die Augenblicke zu konzentrieren, wenn ich sie wiedersehen konnte. Ich wollte wissen, wie sie tickte. Ich wollte, dass sie mich wieder von sich stieß, mich weiter provozierte, bis ich eine Ausrede hatte …
Ich ließ das Video von Neuem laufen.
Es wirkte nur schön, weil sie schön war, redete ich mir ein, verzweifelt bemüht, etwas objektiver zu werden. Abgesehen von ihrer Präsenz war es nicht anders, als würde man einen von seinem Pfleger geführten psychisch Kranken weinen sehen oder ein Auto, das an einem Kinderspielplatz langsamer fährt. Man beobachtete es und empfand vielleicht ein gewisses Unbehagen, doch man sagte nie irgendwas, weil es einfach so war, selbst wenn es sich nicht richtig anfühlte.
Ich zeichnete ihre Kieferpartie, kantiger als die von Emma, dann den Schatten, den ihre Wangenknochen warfen.
Ich sah mir den Film noch ein paar Mal an, doch bei dieser Ausleuchtung konnte ich nichts Genaueres erkennen. Jedenfalls nichts, was ich noch nicht gesehen hatte. Jedes Mal, wenn ich dachte, sie ziehe mich näher an sich heran, musste ich feststellen, dass uns immer noch eine Glasscheibe voneinander trennte.
Ich schaute auf den Notizblock in meinem Schoß und wunderte mich, wie einfach es gewesen war, ihr Wesen einzufangen. Mit einer gewissen Unruhe erkannte ich, dass es daran lag, dass sie im Zweidimensionalen zu Hause war. Sie war nicht schwer zu zeichnen, weil es ihr offenbar an Menschlichkeit mangelte. Einmal hatte ich versucht, Mark zu malen, weil er immer so gequengelt hatte, doch nach ein paar Tagen hatte ich mich geweigert, es erneut zu versuchen. Ich kannte ihn zu gut, all seine Eigenarten, seine Vorzüge und Fehler, um ihm auf Papier gerecht zu werden.
Sie schaute vom Blatt zu mir auf und gab mir noch immer keine Antworten.
»He!«, rief Mark aus dem anderen Zimmer und verkündete mir sein Kommen noch so rechtzeitig, dass ich den Laptop zuklappen konnte, bevor er reinkam. »He, guck dir das an! Hab ich dir vergessen zu sagen.«
»Was denn?« Ich legte den Notizblock beiseite.
Er reichte mir eine aufgeschlagene Zeitung. »Ungefähr unter dem ersten Viertel … Erinnerst du dich noch an die Adresse, die ich dir gegeben habe, als du diesen Kyle Browning gesucht hast? Das Haus in Shooters Hill? Da wurde eine Leiche gefunden – lies mal!«
»Verdammt noch mal …« Ich setzte mich auf.
»Ist mir nur ins Auge gesprungen, vielleicht kennst du ihn ja.«
Joseph O’Donoghue.
Der Name sagte mir nichts, aber ich erkannte die Person auf dem Bild. Ich erkannte den blonden Pony, der in die Augen fiel, das freundliche Lächeln.
Meds.
»Scheiße«, flüsterte ich.
»O Gott, kanntest du ihn?«
»Ich kannte ihn nicht, ich … ich hab mit ihm gesprochen, als ich da war. Er war …« Mein Blick fiel auf ein Wort. »Selbstmord?«
»Ja, Überdosis Heroin. Schlechte Qualität.«
»Aber …« Allmählich wurde mir übel. »Eine Überdosis Heroin?«
»Ja, echt traurig.«
Ich legte die Zeitung auf den Laptop, holte mein Handy heraus und versuchte wieder, Matt zu erreichen. Nichts. Die Zweifel wurden zur Gewissheit. Ich wusste, dass ich mit Brinks sprechen musste, er war der Einzige, der mir problemlos Zugang zu Video-Überwachungsbändern verschaffen konnte.
Der Junge hatte ein entwaffnendes Lächeln gehabt, erinnerte ich mich. Und er nahm kein Heroin – auch das wusste ich noch.
»Mark, du … liest doch Bücher und so.« Ich schaute zu ihm hoch. »›Doch wenn ein dringlich Los dich führt zu seinem
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