Kalter Schmerz
anschließend auf Zehenspitzen durch das Studio zu wirbeln. Mit rotierenden Armen setzte sie zu einem Sprung an.
»Guck mal hier«, sagte Mark und reichte mir ein Foto. Sein Blick flackerte zwischen den Fotos und dem Monitor hin und her. » Emmas 14. ’08 « .
Ich nahm das Foto und hielt es hoch, damit ich den Blick nicht vom Bildschirm abwenden musste. Es zeigte Clare mit Emma in der Küche, die ich so gut kannte. Flüchtig betrachtet, waren es nur Clare und Emma, die nebeneinanderstanden, blond neben braun.
»Ja?«, sagte ich und beobachtete, wie Clare einen Knicks machte.
»Findest du es nicht komisch, dass sie irgendwie versucht … keine Ahnung … besser zu posen als ihre Tochter? Wer hat da Geburtstag? Wen zeigt das Foto? Das ist nicht einfach ein Foto von Emma, oder?«
Ich betrachtete es erneut. Er hatte recht, wie meistens. Wahrscheinlich sollte es ein Geburtstagsfoto sein, die Art von Bild, die einer Mutter wie Clare die Möglichkeit gab, mit ihrer Tochter anzugeben. Aber es sah ganz anders aus. Clare war diejenige, die in die Kamera schaute, diejenige mit dem zermürbend direkten Blick, als würde sie neben ihrer Tochter nichts anderes empfinden als den Verlust der Person, die sie einst gewesen war.
»Nic …«
»Nein, ich sehe es auch.«
»Nein, guck mal!«
Ich schaute hin, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Clare mit der Stirn gegen die verspiegelte Wand schlug. Sie zuckte zurück und hielt sich den Kopf, lehnte sich gegen das Glas und schlug erneut das Gesicht in den Spiegel.
»O Gott.« Mir wurde schlecht.
»Leck mich am Arsch …«
Auf Zehenspitzen kehrte sie in die Mitte zurück. Mit einem Arm hielt sie das Gleichgewicht, mit der freien Hand griff sie sich an die Stirn. Ihr Haar bedeckte die Verletzung, doch als sie sich aus dem Takt drehte, zur Kamera hin, weinte sie. Es war ein sehr kontrolliertes Weinen, fand ich, als hätte sie gelernt, zu weinen und dabei trotzdem attraktiv zu wirken.
Ihre Arme bewegten sich wie Flügel, als sie sich vor das Objektiv kniete. Die Wangen glänzten vor Tränen. Sie hielt sich die Augen zu, wie die Heldin einer Shakespeare-Tragödie, dann war das Video zu Ende.
Eine Weile saßen wir schweigend da.
Ich hatte immer noch das Gefühl, mich übergeben zu müssen.
»Das ist wirklich passiert, oder?«, fragte ich.
»Mit Sicherheit … Muss sagen, ich hab mit vielem gerechnet, aber das habe ich nicht kommen sehen.« Mark stellte den Film so weit zurück, dass wir uns die Einstellung noch mal ansehen konnten.
Clare wirbelte auf den Spiegel zu, zögerte kurz und schlug dann mit einer Wildheit, die mich entsetzte, die Stirn gegen das Glas. Wenn ich jemandem mit solcher Wucht einen Kopfstoß versetzte, würde ich anschließend eine heftige Gehirnerschütterung davontragen. Schon beim Zusehen konnte ich beinahe den Aufprall meines Schädels fühlen.
»Gott.« Mark beugte sich vor, das Kinn in den Händen. »Das ist … hm.«
Ich war es nicht gewohnt, dass er sprachlos war. »Hm?«
»Das ist interessant.«
»Mehr fällt dir dazu nicht ein? Interessant?«
»Tja, wie würdest du es denn nennen?«
»Abgefuckt.«
Er hob die Augenbrauen, als tadelte er mich für meine mangelhafte Fantasie.
»Und wo bist du gestern Nacht gewesen?«, fragte er.
»Bei einem Mädchen«, log ich halb.
»Ja? Bei welchem denn?«
»Sie heißt Daisy.« Ich musste grinsen, weil es so absurd klang. »Sie … mag Vögel.«
Mark wollte nicht näher auf das Thema eingehen, zuckte nur mit den Achseln und stand auf. »Das ist interessant.«
Während er in der Küche die Einkäufe verstaute, drückte ich noch mal auf Start und schaute den Film erneut.
»Warte! Warte auf mich!«, rief Mark, als er die Musik hörte, schoss zurück ins Wohnzimmer und stützte sich auf die Rückenlehne des Sofas. »Gut, los!«
Schweigend schauten wir es uns noch einmal an. Ich dachte daran, wie sie mich gebeten hatte, sie zu schlagen, an die blauen Flecken in ihrem Gesicht. War das hier die Ursache gewesen? Ich schaute auf das Datum. Es war möglich.
Es ist nicht seine Schuld.
Ich schlug die Hand vor den Mund.
Manchmal ist es besser, überhaupt irgendwas zu fühlen, denke ich. Oder zumindest etwas … anderes.
»Scheiße«, stieß ich leise aus.
»Was?«
Tja, und ich wüsste gerne, warum du dich selbst so hasst.
»Nic, was ist?«
»Es ist nicht er, der sie schlägt«, sagte ich, und mir wurde übel von dieser Erkenntnis. »Deshalb hat Emma Pat immer wieder ins Haus gelassen. Weil es
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