Kalter Schmerz
ich war leichtsinnig drauf und beschloss, mich darum zu kümmern, wenn es so weit war. Ich brauchte lediglich einen guten Blick auf Hudson und hoffentlich einen Wagen, dem ich folgen konnte.
Da ich eine gute Stunde totzuschlagen hatte, setzte ich mich mit dem Laptop, den Fotos und den Unterlagen hin, die ich aus dem Haus mitgenommen hatte.
Einen dummen Moment lang überlegte ich, ob ich Harriet anrufen und ihr erzählen sollte, ich hätte am Vormittag Koks vom Handspiegel einer Nutte gesnieft, nur damit Harri sich besser fühlte, aber ich glaubte nicht, dass sie die Ironie zu schätzen gewusst hätte.
Während der Computer hochfuhr, nahm ich ein paar Fotos in die Hand und sah sie durch. Es waren Familienaufnahmen, aus dem Urlaub und von Emmas Erstkommunion. Einige waren auch älter.
Bei einem Foto von Clare hielt ich inne. Sie posierte vor der Royal School of Ballet. Sie sah älter aus, als Emma gewesen war, musste etwa um die achtzehn sein. Clare trug Jeans und ein schlichtes weißes Oberteil, ihr Gesicht war fülliger. Ihr Lächeln wirkte weicher, irgendwie lieblicher. Sie war auch jetzt schön, dachte ich, aber damals war sie viel schöner gewesen, als ihre Schönheit noch nicht ihren Charakter deformiert hatte, als sie noch nicht den Eindruck vermittelte, gelernt zu haben, wie sie mit Hilfe ihres Aussehens andere Menschen manipulieren konnte.
Auf einem der Bilder war sie mit Pat zu sehen, jünger und inmitten von Menschen. Ich drehte es um, dort stand in der mir inzwischen vertrauten Schrift: » Jennys Party ’94 «. Clare trug eine Fuchsmaske aus Gummi, dazu ein schwarzes Partykleid. Pathatte ebenfalls eine Fuchsmaske auf. Ich sah nur ihre Augen und die Arme, die sie umeinandergelegt hatten.
» Emmas 1. Geburtstag ’95 «. Clare saß auf dem Boden eines Wohnzimmers, das ich nicht kannte, und gab Emma die Flasche. Sie trug Zöpfe und schaute nicht in die Kamera. Mit einem Ausdruck ähnlich dem, den ich auf dem Tanzvideo bei ihr gesehen hatte, blickte sie auf Emma in ihrem Schoß hinab. Wahrscheinlich Liebe, dachte ich. Ich musste die Bilder beiseite legen.
Ich loggte mich beim Web-Speicher ein, wünschte mir, Mark würde nach Hause kommen und ein bisschen Objektivität ins Spiel bringen.
Ich klickte auf das jüngste Video und wartete. Ein Teil von mir war aufgeregt, zu aufgeregt, ein anderer Teil war voller Angst.
Ich hörte den Schlüssel in der Haustür und drückte hastig auf »Pause«.
»Hallo, Süßer, ich bin …!« Mark entdeckte die Einkaufstüten im Flur. »Ooh, Gemüse! Halleluja!«
»He, sei leise und guck dir das hier an!«
»Wie anstrengend.« Er sprang über die Rückenlehne der Couch und landete direkt neben mir, noch in Jacke und Schuhen. »Wow, du hast dir also den Laptop geholt?«
»Hab alle Videos kopiert, guck sie mir jetzt in umgekehrter Reihenfolge an.«
Er sah sich kurz über die Schulter um. »Kann ich erst die Tiefkühl-Sachen wegpacken?«
»Da ist nichts … Nein , sei leise und guck dir das an.«
»Ohne Popcorn? Nein …«
Ich boxte ihm gegens Bein und drückte auf »Start«, er hörte nicht auf zu lachen. Ich beugte mich vor, um besser sehen zu können. Mark nahm den Stapel Fotos vom Tisch und sah sie durch.
Das Video war diesmal in einem Ballettstudio aufgenommen worden. Ich nahm an, dass es das Studio war, wo sie arbeitete. Das Datum lag nur wenige Tage zurück.
»Als sie jung war, war sie hübscher, nicht?«, sagte Mark.
Ich lächelte in mich hinein.
»Ich meine damit nicht, weilsie jünger war«, fügte er hinzu. »Aber sie sieht netter aus, sie sieht aus, als ob …«
»Du meinst wahrscheinlich glücklicher.«
»Ja, das könnte sein«, sagte er, und es klang bedrückt.
Mit einer eleganten Drehung kam Clare ins Bild, ihr Haar flog durch die Luft, sie trug ein rotes Kleid und eine weiße Strumpfhose, die aussah wie speziell zum Tanzen gemacht. Ich fragte mich, ob wir nun sehen würden, was sie in den Pausen zwischen den Unterrichtsstunden machte, ob sie sich diese Fantasien erschuf, damit sie sich später die Filme ansehen und sich einreden konnte, sie tanze doch für jemand anders als nur für sich.
Eine Weile drehte sie sich auf der Stelle, abwechselnd streckte und beugte sie ihr Spielbein, um Schwung zu holen. Das schien sie am besten zu können: sich im Kreis drehen.
Ich zählte sechs Pirouetten zu der sinnlichen Musik im Hintergrund, dann hielt sie inne, streckte die Hände aus, als wolle sie die Kamera vertreiben, suchte ihr Gleichgewicht, um
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