Kalter Süden
es also tatsächlich.
»Sie haben den Täter geschnappt«, sagte sie. »Besser gesagt, die Täterin. Die Frau sitzt in den USA im Gefängnis. Die Amis liefern sie nicht aus, deshalb gibt es keinen Prozess, aber alle Verdachtsmomente gegen uns sind ausgeräumt.«
Sie sagte »uns« statt »mich«, und er protestierte nicht.
»Super«, sagte er nur.
Sie schluckte, dann fragte sie:
»Wollen wir feiern?«
»Feiern?«
»Was machst du morgen Abend?«
»Die Verhandlungen sind gegen vier abgeschlossen. Wir hatten eigentlich vor, hinterher was essen zu gehen.«
Sie biss sich auf die Lippe, dass es blutete.
»Okay«, sagte sie und merkte, wie ihr eine Welle der Verlegenheit ins Gesicht schoss. »Natürlich. Du bist zum Abendessen eingeladen …«
Am anderen Ende blieb es einige lange Sekunden still. Sie hielt sich die Hand vor die Augen und schloss die Lider.
»Andererseits ist es ja nur die skandinavische Delegation«, fuhr er fort. »Die Norweger schnorren sich mal wieder durch, wie üblich, sie nehmen gerne alles mit, was an der EU gut ist, aber wenn es darum geht, sich an der Rechnung zu beteiligen, kneifen sie …«
Er verstummte.
»Ich könnte dich ja interviewen, wie die Verhandlungen gelaufen sind«, sagte Annika.
»Es dürfte schwierig werden, das zusammenzufassen, ohne …«
»Du kannst doch einfach sagen, dass der Gedankenaustausch sehr fruchtbar war, dass ihr auf einem guten Weg seid und die Arbeiten wie vorgesehen fortgesetzt werden.«
Er überlegte eine Sekunde, dann fasste er einen Entschluss.
»Die sollen ohne mich gehen. Wann treffen wir uns?«
Die Freude kitzelte in ihrem Bauch, und sie musste einen kleinen Jubelschrei unterdrücken.
»Ich wohne in Puerto Banús«, sagte sie und versuchte, beherrscht zu klingen. »Warst du schon mal hier?«
»Einmal mit meinen Eltern, als ich vierzehn war. Wo wohnst du?«
Sie gab ihm den Namen des Hotels und eine einfache Wegbeschreibung.
»Nimm die erste Mautautobahn, aber nicht die zweite, sonst landest du in Estepona, und da will niemand hin.«
Sie verabredeten sich für zwanzig Uhr in der Lobby.
Dann legten sie auf.
Eigentlich hätte sie nun ihren Artikel schreiben müssen, aber Annika war so müde, dass sie Rock und Pullover auszog, unter die Bettdecke kroch und verwirrte, aber hoffnungsfrohe Gedanken dachte. Als an der Autobahn die Laternen aufflammten, schlief sie ein.
Freitag, 29 . April
In Südspanien dämmerte der Morgen später als in irgendeinem anderen Teil Europas.
Das beruhte nicht auf einer Diskriminierung seitens der Sonne oder der Wettergötter, sondern auf einer politischen Entscheidung der spanischen Behörden. Man hatte beschlossen, dass das gesamte spanische Festland derselben Zeitzone angehören sollte wie der Rest Europas, also Greenwich Mean Time plus eine Stunde, was geographisch gesehen völliger Unsinn war. Um halb acht am Morgen stand Annika in Shorts, Kapuzenpulli und Joggingschuhen am Strand und schaute zu, wie hinter Puerto Banús die Sonne aufging, die auf der anderen Seite des Meeres die roten Berge Marokkos beleuchtete. Aber dort war es erst halb sechs.
Sie blickte eine Weile über das Wasser und dachte über die Zeit nach, und darüber, was die Menschen aus ihr machten.
Es war ihr letzter Arbeitstag an der Costa del Sol. Morgen früh würde sie nach Hause fliegen. Von allen Interviews, die sie geführt hatte, stand noch keine Zeile auf dem Papier. Ihr gesamtes Material bestand aus Fragmenten in ihrem roten Notizblock und digitalen Daten auf ihrem Handy. Es würde Tage dauern, eine Struktur hineinzubringen und etwas zu produzieren, das man veröffentlichen konnte. Außerdem kam ihr keiner der Artikel besonders interessant vor. Zu ihrem eigentlichen Vorhaben, nach Mitgliedern der Familie Söderström zu suchen, war sie nicht einmal ansatzweise gekommen.
Es muss ein Motiv für dieses Verbrechen geben, das noch im Dunkeln liegt. Eine ganze Familie hinzurichten zeugt von schrecklicher Brutalität. Der Mörder hat ein klares Zeichen gesetzt. Wir wissen auch nicht, welches der Opfer das eigentliche Ziel war. Sebastian Söderström war ein charmanter Sunnyboy, Veronica Söderström eine angesehene Anwältin. Wer nicht fragt, bekommt keine Antwort. Suzette hat sich am 30 . Dezember letzten Jahres in Luft aufgelöst. Ihr Tod wäre für sie vielleicht noch nicht einmal das Schlimmste.
Sie schob den Gedanken von sich.
Über Nacht war Wind aufgekommen. Er wehte jetzt aus einer anderen Richtung und brachte kühlere
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