Kalter Süden
massierte sich die Hände auf dem Schoß und blickte auf den Smaragdring ihrer Großmutter. Eine ewig lange Minute verstrich, bevor die Pflegerin, oder was sie nun war, ins Zimmer kam, Alexander an die Hand nahm und vorschlug:
»Wollen wir uns einen Film ansehen, wir zwei? Findet Nemo ?«
Sie wandte sich an Annika.
»Der handelt von einem kleinen Fischjungen, der seinem Vater ausgebüxt ist, aber am Schluss findet er wieder nach Hause.«
»Ja«, sagte Annika. »Ich weiß.«
Die Stille hielt an, auch als sie allein waren.
»Ich arbeite ja beim Abendblatt «, brach Annika das Schweigen. »Deshalb wollte ich Sie fragen, ob Sie möchten, dass ich in der Zeitung etwas über Sie schreibe. Über Sie und Alexander. Wie es Ihnen hier geht.«
Julia biss auf ihrem Daumennagel herum.
»Noch nicht«, sagte sie. »Später vielleicht. Ja, später. Ich will darüber sprechen, aber das Durcheinander in meinem Kopf ist im Moment noch zu groß.«
Annika wartete stumm. Sie hatte auch nicht erwartet, dass Julia schon heute Nachmittag über die Zeit nach ihrer Freilassung sprechen würde, aber sie hoffte, dass sie es irgendwann tun würde. Für die Medien endeten die Kriminalfälle damit, dass das Verbrechen aufgeklärt und der Täter verurteilt war. Über die Folgen der schrecklichen Ereignisse, den langen und mühsamen Weg des Opfers zurück in ein einigermaßen normales Leben, darüber wurde nie geschrieben.
»Ich bin so wütend«, sagte Julia leise und beinahe erstaunt. »Ich bin so wahnsinnig wütend auf die ganze Welt.«
Langsam ging sie zum Tisch und sank auf Alexanders Stuhl. Sie war so schmal, dass sie beinahe in dem riesigen Pullover verschwand.
»Die Betreuer sagen, auch das ist normal. Alles ist so verdammt normal hier!«
Sie öffnete die Arme mit einer hitzigen Geste.
»Sind Sie die ganze Zeit hier gewesen, seit Sie aus der Haft entlassen wurden?«, fragte Annika.
Julia nickte.
»Es war mitten in der Nacht, sie haben mich zum Bereitschaftsrichter gebracht, da gab es um halb zwei morgens eine Haftverhandlung, und danach haben sie mich hergefahren. Alexander war schon hier.«
Sie sah zum Fenster. Draußen war es inzwischen dunkel.
»Es ging mir nicht gut im Gefängnis«, sagte sie. »Hier ging es mir am Anfang auch nicht besonders. Alexander wollte nichts von mir wissen. Er wollte nur bei Henrietta sein.«
»Und das war auch ganz normal?«, fragte Annika, und Julia musste tatsächlich lachen.
»Sie haben es erfasst«, sagte sie. »Obwohl sie hier sehr gut sein sollen, sagt Nina. Sie hat sich über die Einrichtung informiert, das hier ist der Rolls-Royce unter den Familienheimen. Ist ja auch nur recht und billig, dass die Gesellschaft ein bisschen von dem wiedergutmacht, was sie uns angetan hat …«
Annika hörte Nina Hoffmans Stimme hinter Julias Worten. Julias beste Freundin, mit der sie Ausbildung und Streifendienst gemeinsam absolviert hatte, war während Annikas Recherchen zu David Lindholm eine ihrer Quellen gewesen. Annika sah die Polizistin vor sich, den strammen Pferdeschwanz, den resoluten Blick, die Entschlusskraft.
Julia stand wieder auf.
»Möchten Sie vielleicht einen Kaffee? Der ist hier, in der Thermoskanne. Übrigens hat nicht Alexander den Kuchen gebacken, sondern Henrietta, während Alexander danebensaß und Krähennester gemalt hat.«
Sie nahm die oberste Zeichnung von einem Stapel auf dem Tisch und hielt sie hoch. Ein Gewirr von pechschwarzen Strichen bedeckte fast jeden Quadratmillimeter des großen Blattes.
»Auch normal«, sagte sie und legte das Bild wieder weg.
»Einen kleinen Kaffee vielleicht«, sagte Annika. »Der bei uns in der Redaktion ist ungenießbar. Wir haben den Verdacht, dass jemand heimlich Katzenpisse in den Wasserbehälter schüttet.«
Julia zeigte auf die Thermoskanne, machte aber keine Anstalten, ihr eine Tasse einzugießen.
»Mindestens drei Monate sollen wir hierbleiben«, erklärte sie. »Wegen Alexander, heißt es. Er ist es, der hier betreut wird. Wir sind ein Notfall und werden begutachtet.«
Beim letzten Wort wurde ihre Stimme brüchig vor Wut.
»Die Ärzte brauchen acht Wochen, um zu beurteilen, wie gestört wir sind. Anschließend werden wir zwei bis sechs Monate therapiert. Danach müssen wir in der Nähe wohnen, mit enger Anbindung an die Einrichtung. Der Schwerpunkt in diesem Heim liegt auf dem Verhältnis zwischen Eltern und Kind. Man wird mich in meiner Mutterrolle unterstützen und anleiten. Danach gibt es die Möglichkeit der Betreuung zu
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