Kalter Süden
oben, richtete ihre Aufmerksamkeit jedoch schnell wieder auf den kleinen Taschenspiegel, den sie in der Hand hielt.
»Was macht was wo?«, fragte sie und zog einen Lippenstift mit goldener Hülse hervor.
Annika zeigte auf die Flagge.
»Die letzte da. Ist der Besitzer eine Makrele?«
Die Dolmetscherin blickte auf, offensichtlich vollkommen verwirrt.
»Gais ist ein Fußballverein in Göteborg«, erläuterte Annika. »Die Fans werden Makrelen genannt.«
»Percy Nilsson hat den Platz gerade an vier Schweden verkauft. Vielleicht ist einer von denen ja so ein Fisch. Der Eingang ist dort drüben.«
Carita verstaute den Lippenstift in ihrer Lederhandtasche, diesmal eine silberne Variante.
Eine Steintreppe führte hinunter zu einem überladenen Eingangsportal, das von riesigen Orangenbäumen umstanden war.
Annika schob die Tür auf und schnappte nach Luft.
»So leben also die Reichen«, sagte sie. »So viel zum Thema Realitätsflucht.«
Vor ihr erstreckten sich weiße Marmorterrassen. In einem künstlich angelegten See schwammen ein paar Enten. Hellgrüne Grashügel, ebenmäßig wie Frauenbeine in einer Rasierklingenreklame, zogen sich bis zum Horizont. Kleine Golfcarts fuhren über die zementierten, dunkelrosa Wege. Wohlfrisierte Männer in weißen Piquéshirts, die ihre marineblauen Pullover lässig um die Schultern geschlungen trugen, saßen an runden Tischen und machten entspannte Gesichter.
»Kennen Sie die dahinten?«
Carita Halling Gonzales deutete auf eine Frau mittleren Alters und einen sehr jungen Mann, die die Köpfe zusammensteckten und in ihre Richtung sahen.
Die Madrid-Korrespondentin des Konkurrenten und ihr Toyboy-Fotograf.
»Ich weiß, wer sie sind, und sie erkennen mich anscheinend auch.«
Aus der Zeitung von heute, dachte sie, behielt es aber für sich. Carita war vermutlich nicht sonderlich gut informiert, was die schwedischen Medien anging. Es gab keinen Grund, ihr von dem Knutschfoto zu erzählen.
Hinter ihnen wurde die Tür geräuschvoll wieder aufgerissen, und einen Augenblick später waren sie von Leuten umringt, die die gesamten Marmorterrassen bevölkerten. Stil und Auftreten der Neuankömmlinge unterschieden sich so markant vom dem der anderen Gäste, dass alle für einen Moment überrascht innehielten.
»Und das sind auch alles Ihre Kollegen?«
»Schwedischer Rundfunk«, antwortete Annika leise, während die Männer begannen, polternd ihre Kameras und Stative, lange Kabel und Mikrofone mit haarigen Überzügen auszupacken.
Das Gerücht von der Schweigeminute hatte sich offenbar schnell verbreitet.
Angelockt von den Kameras und den konzentrierten Gesichtern der Fernsehleute strömten die Gäste, die im Clubrestaurant gesessen und gespeist hatten, heraus auf die Terrasse und verteilten sich zwischen den Tischen. Sobald ein Fernsehteam in der Nähe war, zog es die gesamte Aufmerksamkeit auf sich.
»Sehen Sie irgendwelche bekannten Sportler?«, flüsterte Annika Carita zu, während sie überprüfte, ob die Batterie ihrer Kamera genug Saft hatte.
»Höchstens Ihre Makrelen«, sagte die Dolmetscherin und deutete auf einige glatzköpfige und übergewichtige Männer in dunkelgrauen Sakkos mit dem gelbgrünen Emblem am Revers.
Immer mehr Menschen kamen aus dem Restaurant. Bald war die ganze Treppe voll.
»Was ist denn das hier für ein Zirkus?«, fragte ein Mann in hellblauem Piquéshirt, der unmittelbar hinter Annika stand.
»Schweigeminute für Sebastian Söderström«, sagte Annika und musterte den Mann, um herauszufinden, ob er möglicherweise ein ehemaliger Promi war.
»Tatsächlich?«, sagte er. »Na, das wird bestimmt richtig traurig.«
Annika fischte ihren Block und einen Stift aus der Tasche.
»Glauben Sie, wir werden eine rührende Gedenkminute erleben?«, fragte sie.
Der Mann lachte auf und schüttelte den Kopf.
»Die Leute werden wohl eher um das Geld trauern, das sie nie wiedersehen. Die Hälfte von ihnen hat irgendwann einmal in Sebastian Söderströms wahnsinnige Phantasieprojekte investiert.«
Schon nach wenigen Worten hielt Annika im Schreiben inne. Ihr Gehirn hatte Mühe, den Inhalt dieser Aussage zu erfassen.
»Wie … Was meinen Sie damit?«, hakte sie nach.
Der Mann steckte sich das Shirt ordentlich in die Golfhose und schaute auf die Uhr.
»Söderström war ein Meister der Überzeugungskraft. Nach ein paar Spielzeiten bei der NHL dachten die Leute, er könnte Gold scheißen. Das Traurigste daran ist, dass er selbst es auch geglaubt hat.«
Er hielt
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