Kalter Weihrauch - Roman
Leben noch einmal lachen können, nachdem man einem anderen Menschen so Entsetzliches angetan hatte?
Leo saß im Skoda, die Standheizung lief. Die Plastiktüte mit dem Personalausweis von Susanne Kajewski, dem Labello und dem Schlüsselbund lag auf Pestallozzis Sitz, er hob sie auf, als er die Tür öffnete. Dann ließ er sich auf den Sitz fallen und wandte sich Leo zu, der mit lässigen Bewegungen seiner behandschuhten Hände über das Display eines pink glitzernden Smartphones strich. Suse Kajewski hatte offenbar Metallicfarben geliebt.
»Hast du schon was rausgefunden?«, fragte Pestallozzi. Technische Spielereien überließ er nur zu gern dem Jüngeren. Der nickte und zappte weiter durchs Menü.
»Massen von Apps zu Mode und Schminktipps und lauter so Zeug. Und Lokale, davon hat sie mindestens 50 gespeichert. Und …«
»Und ihre Anrufe, hast du die schon gecheckt!«
»Bin grad dabei! Also, jede Menge Anrufe nach Deutschland, vor allem nach Schwerin. Ich hab gerade die Vorwahl überprüft, wie du gekommen bist, Chef! Und vor drei Tagen hat sie dann den ganzen Vormittag telefoniert, zwei Nummern in Wien hat sie gleich ein paarmal hintereinander angerufen! Und die Nummern gehören zu, warte mal, das hab ich gleich …« Leo fuhr sich konzentriert mit der Zungenspitze über die Lippen, dann hob er plötzlich den Kopf und starrte Pestallozzi an.
»Na, sag schon!«
»Zu Abtreibungsambulatorien!« Leo hielt dem Chef das pinkfarbene Smartphone direkt unter die Nase, damit der ihm auch ja glaubte. »Diese Suse hat Ambulatorien für Schwangerschaftsabbruch angerufen!«
*
Alle glaubten, dass sie mehr über den Tod wusste. Es war wie eine unsichtbare Wand, die zwischen ihr und den anderen Menschen stand, sie empfand es immer wieder so, wenn das Gespräch auf ihren Beruf kam. Sie sind wirklich Gerichtsmedizinerin? Sie sezieren Leichen? Ist das denn nicht gruselig? Sie wusste dann nie eine Antwort, sondern stotterte herum, versuchte es zu erklären. Nein, es war nicht schauerlich. Die Toten lagen still und voller Würde vor ihr, alle Angst war von ihnen abgefallen, alle Gemeinheit und alle Kleinkariertheit, die sie vielleicht im Leben gequält hatte. Und sie erzählten von sich. Wie sie die Jahre, die ihnen vergönnt gewesen waren, zugebracht hatten. Wie sie sich ernährt hatten. Wie viele Zigaretten sie geraucht hatten. Ob sie sich mit Alkohol getröstet oder mit Härterem Mut gemacht hatten. Ob sie Kinder geboren hatten.
Lisa Kleinschmidt sah zu Kajetan hin, der gerade die Instrumente säuberte, Wasser plätscherte in die Nirosta-Wanne. Dann sah sie wieder auf die junge Frau, die vor ihr lag, der Längsschnitt über ihren weißen Körper war vernäht, sie war bereit für ihren letzten Weg. Ihre Schwester aus Berlin würde kommen und Susanne Kajewski abholen, mühsamer Papierkrieg war zu erledigen, all die Dinge, die für die Hinterbliebenen Last und Stütze zugleich waren. Die Schwester hatte nicht allzu betroffen gewirkt, sondern eher ärgerlich, hatte Artur erzählt. Mit der Suse wird es einmal ein schlechtes Ende nehmen, das habe ich immer gewusst, hatte sie gesagt. Sie ist ja auch nur meine Halbschwester gewesen, wir haben nicht besonders viel Kontakt gehabt. Von einer Schwangerschaft hatte sie nichts gewusst. Und jetzt musste sie extra anreisen, ausgerechnet vor Weihnachten. Das schien auch eine Gemeinsamkeit zwischen den beiden Opfern Agota Lakatos und Susanne Kajewski zu sein. Dass keine verzweifelten Angehörigen zu besänftigen waren, die wie von Sinnen waren vor Schmerz, sondern dass niemand sie zu vermissen schien. Suse, ich hätte dir ein anderes Leben gewünscht, dachte Lisa Kleinschmidt. Mit viel mehr Liebe. Ob du deinem Kind eine gute Mutter geworden wärst? Wenn du dein Kind überhaupt bekommen hättest? Suse Kajewski hatte ja schon bei Abtreibungsambulatorien in Wien angerufen, auch das hatte Artur ihr erzählt. Was war die richtige Entscheidung, wenn man allein war und schon mit dem eigenen Leben kaum zu Rande kam? So viele Kinder wurden einfach in die Welt gesetzt und dann vernachlässigt oder sich selbst überlassen. Die junge Tante aus dem Kindergarten vom Max hatte ihr einmal voller Zorn von Knirpsen berichtet, die mit pitschnassen Windeln in der Früh gebracht wurden, weil niemand die Zeit hatte, sie auf den Topf zu setzen. Die völlig verstört waren, weil sie am vergangenen Abend allein vor dem Fernseher gesessen waren und mit offenem Mund irgendeinen Gruselfilm gesehen hatten. Die
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