Kalter Weihrauch - Roman
weitermachen. Das Schneetreiben wird immer stärker.« Er nickte, und sie fegte behutsam die Kristalle fort, die sich als weiße Schicht über das Bündel gelegt hatten. Das Gesicht der jungen Frau war bläulich verfärbt, die Augen waren nur halb geschlossen. Die Zunge ragte wie eine angeschwollene dicke Made aus dem Mund. Ein lilafarbenes Fleeceband lag lose um den Hals, der von einem bräunlichen Würgemal gezeichnet war. Die hübsche Suse. Was für ein Segen, dass kein Mitglied ihrer Familie in der Nähe war. Der gesteppte blaumetallicglänzende Anorak war zugezippt bis über die Brust hinauf. Die Hände hielten eine Kette aus braunen Holzperlen, die außerdem mehrmals um ihre Gelenke geschlungen war. An der Kette hing ein Kreuz. Pestallozzi beugte sich näher.
»Genau«, sagte Klaus, »wir wollten, dass du das so siehst und nicht nur auf den Fotos. Es ist ein Rosenkranz.«
Pestallozzi hatte ein Gefühl, als ob ihm mitten im Schneegestöber der Schweiß ausbrechen würde. Ein Rosenkranz! Zuerst eine Tote aus einem Kloster und jetzt eine ermordete junge Frau, die einen Rosenkranz in den Händen hielt. War hier ein Wahnsinniger am Werk, der eine Rechnung mit der Kirche zu begleichen hatte? Oder war es gar jemand aus der Kirche selbst? In seinem Kopf hämmerten die Fragen.
Lisa hatte begonnen, den Rosenkranz vorsichtig aus den steifen Händen zu lösen.
»59 Perlen«, sagte Klaus, als Lisa die Kette in die Plastiktüte gleiten ließ, die er ihr hinhielt. »Ein Rosenkranz hat 59 Perlen.«
Pestallozzi registrierte die sachliche Bemerkung mit einem kurzen Erstaunen. Was der Klaus alles wusste! Dann wandte er sich wieder Lisa zu. »Kannst du mir schon mehr sagen?«
Sie legte eine Hand im dünnen weißen Chirurgenhandschuh auf die Schulter von Suse Kajewski, es war eine behutsame Geste, die ihr ähnlich sah. »Du kannst davon ausgehen, dass sie erdrosselt worden ist. Mit diesem Stirnband, das noch immer um ihren Hals liegt. Der Täter oder die Täterin hat es vermutlich um die eigene Hand geschlungen und mindestens einmal gedreht. Ich glaube fast, dass das von hinten geschehen ist. Aber dazu muss ich sie auf dem Tisch haben.«
»Und wie lang ist das her, was meinst du?«
Sie sahen sich an, und Lisa lächelte, wie um Verständnis heischend, es war eigentlich nur ein Zucken ihrer Mundwinkel. »Du weißt, dass ich dazu nur eine Vermutung äußern kann, Artur. Jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt. Aber sie liegt schon seit über 20 Stunden hier, das steht fest. Ich würde sagen, dass sie zwischen vorgestern Abend und gestern früh getötet und hier abgelegt wurde. Aber das ist nur eine erste grobe, sehr vage Schätzung.«
Vorgestern Abend! Da waren sie bei der Gemeindeversammlung wegen dem Hotelneubau gewesen! Und zwei kecke junge Frauen waren hinter ihm im Saal gestanden. Die eine hatte dieses T-Shirt getragen, auf das alle starrten. Und die andere war Suse gewesen, jetzt wusste er es wieder. Natürlich, Suse, die ihn wiedererkannt hatte! »Guten Abend, Herr Chefinspektor!« So freundlich war sie gewesen, so jung und hübsch und lebensfroh. Und dann war sie nach draußen gegangen, und er hatte sofort wieder auf sie vergessen. Suse aus Schwerin. Pestallozzi stand langsam auf. »Danke, Lisa.«
Klaus räusperte sich. »Können wir dann?«
Pestallozzi nickte. Die Kollegen von der Spurensicherung waren abwartend vor einer windschiefen Hütte aus dunkelgrauen Holzplanken gestanden, jetzt setzten sie sich wieder in Bewegung.
»Wo sind wir hier eigentlich genau?«
»Das ist das Freibad, hier ist im Sommer die Hölle los. Na ja, sozusagen. Ich bin sogar schon ein paarmal dagewesen mit meinen Buben. In der Hütte da hinten werden im Winter die Liegen gestapelt.« Klaus wies auf die dunkelgrauen Planken. Hierher würde er mit seinen Söhnen so bald nicht wieder kommen, das stand fest.
»Brauchst du noch etwas? Können wir dir helfen?« Pestallozzi sah Lisa an, aber die schüttelte nur den Kopf. »Ich komme schon zurecht. Morgen hast du meinen Bericht.« Sie nickten sich zu, und er ging langsam über die Wiese zum Auto zurück. Die Welt versank im Schnee. In einem Krimi, der in Grönland spielte, hatte er einmal gelesen, dass die Eskimos, zu denen man ja jetzt Inuit sagte, über 20 Wörter für Schnee hatten. Oder noch mehr. Aber er wusste nur eines. Schnee. Schnee. Verdammter Schnee. Und irgendwo in einer warmen Stube saß einer und lachte sich ins Fäustchen. Obwohl, das war ein schiefes Bild. Denn wie sollte man im
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