Kalter Weihrauch - Roman
ihre Dachkammer. Den Vormittag vertrödelte sie auf ihrem Bett und mit einem Spaziergang durch die kalten Gänge. Auf einem Tisch gleich neben dem Refektorium lagen Broschüren, die von fernen Missionsstationen berichteten und vom Leben längst verstorbener Heiliger, von jungen Männern, die sich zu Priestern berufen fühlten und von Kuppeln, die restauriert wurden. Es war ein Blick in eine Welt, die ihr so fern war wie der Mond. Dann stieg sie wieder die Stufen in den ersten Stock hinauf, wo die Ölgemälde wie Fenster voller Düsternis und Pein an der Wand hingen. Bleiche Körper, von Speeren durchbohrt und von blutigen Striemen bedeckt, bärtige Männer, die zum Himmel flehten. Auf einem der Bilder war ein kleines Bündel zu sehen, das auf einem Tisch lag, Menschen knieten davor. Lisa trat einen Schritt näher.
Der Schmid Blasius hat im Jahre 1518 des Herrn sein todtgeborenes Kind gebracht und auf den Altar gelegt, und nachdem alle zur Mutter der Gnaden um Hilfe gerufen, bekam das todte Kind die schönste Farbe und wurde unter Läutung der Glocken getaufet.
Sie stand schaudernd davor. Was für Aberglauben diese armen Menschen doch beherrscht hatte! Ein Kind, das durchs Beten wieder lebendig geworden war!
»Traurig, nicht wahr?«, sagte eine Stimme neben ihr. Lisa erschrak so sehr, dass sie beinahe aufgeschrien hätte. Diese Schwestern mit ihren verdammten lautlosen Sohlen! Die Frau schien ihr Erschrecken aber zum Glück nicht bemerkt zu haben, sie sah ebenfalls auf das Bild. »Damals durften totgeborene Kinder nicht in geweihter Erde begraben werden. Also hat man sie auf den Altar gelegt, und wenn der Pfarrer Mitleid gehabt hat, dann hat er so getan, als ob das Kind noch leben würde. Dann konnte es getauft und anschließend auf dem Friedhof begraben werden.«
Sie lächelte Lisa an. »Aber Sie sind nicht zu uns gekommen, damit ich Ihnen solche Geschichten erzähle, oder? Mittagessen ist in einer halben Stunde im Refektorium, Sie wissen ja, wo das ist. Heute gibt es Kürbissuppe, wenn mich mein Geruchssinn nicht täuscht. Hoffentlich tut die Agnes nicht wieder zu viel Ingwer hinein, das vertragen die meisten von uns nicht. Aber die Agnes kann ganz schön eigensinnig sein, wenn’s ums Kochen geht.« Sie lachte wieder und nickte Lisa zu, dann nahm sie die letzten beiden Stufen hinauf in den ersten Stock mit einem Satz und mit gerafftem Rock. Lisa starrte ihr verblüfft nach. War das am Ende gar eine Erscheinung gewesen?
Die Kürbissuppe war einfach köstlich. Ziemlich scharf, aber einfach köstlich. Lisa blies auf ihren vollen Löffel. Wer wohl diese Schwester Agnes war, die so fantastisch kochen konnte? Und niemand lobte ihr Gericht, alle hielten die Köpfe gesenkt und aßen schweigend. Ein bisschen Musik wäre nicht schlecht, dachte Lisa. Es muss ja kein Schlagergedudel sein. Aber diese Mönche mit ihren Chorälen sind doch sogar in der Hitparade.
Eine Schwester vom oberen Ende der Tafel war aufgestanden und betrat nun das Podium. Sie nahm die zwei Stufen hinauf so sittsam wie möglich, aber es war ganz eindeutig diejenige, die vorhin so keck ihren Rock gerafft hatte. Die Schwester öffnete ein Buch, alle legten die Löffel zur Seite, Lisa tat es ihnen schweren Herzens nach. Jetzt kam offenbar eine Lesung, hoffentlich wurde die schöne Suppe nicht kalt.
Des Menschen Tage sind wie Gras, er blüht wie die Blume des Feldes. Fährt der Wind darüber, ist sie dahin, der Ort, wo sie stand, weiß von ihr nichts mehr.
Die Stimme der Schwester hatte so wohltönend geklungen, als ob sie auch eine schöne Singstimme haben würde. Aber die Melancholie des Textes hatte sie nicht mildern können. Lisa riskierte einen Blick rundum. Alle griffen wieder zu den Löffeln, die Schwester klappte das Buch zu und verließ das Podium. Sie aßen zu Ende, dann wurde die Tafel aufgehoben, und der Auszug der Schwestern aus dem Refektorium begann. Lisa stand ebenfalls auf, gerade rechtzeitig, denn die Oberin hielt schon wieder vor ihrem Platz an.
»Sie wollten sich doch ein wenig nützlich machen, nicht wahr? Dafür wäre heute Nachmittag eine gute Gelegenheit. Unsere Schwester Benedikta feiert morgen Geburtstag, und Schwester Agnes will eine Überraschung vorbereiten, für die sie Hilfe in der Küche braucht, wie sie mich gerade hat wissen lassen. Wäre das etwas für Sie?«
»Gern. Sehr sehr gern!«
»Wunderbar!« Die Oberin schritt weiter, der Zug der Schwestern folgte ihr. Und welche war jetzt Schwester Agnes? Und wo war die
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