Kaltes Blut
Gesicht des Mädchens, das sie scheu ansah. Sie war schlank, durchtrainiert und hatte eine beachtliche Oberweite. Braune Haare und blaue Augen, genau wie ihr Vater. Einen vollen Mund, ein schmales Gesicht, zarte Hände, was sie wohl eher von ihrer Mutter geerbt hatte.
»Können wir in dein Zimmer gehen?«
»Ja, hier«, sagte sie mit schwächlicher Stimme, als wäre sie krank.
Sie machte die Tür hinter sich zu. Julia Durant ließ ihren Blick durch das große Zimmer schweifen, das unaufgeräumt, aber nicht schmutzig war. An der Wand mehrere Bilder und Poster von Matt Damon, auf dem Schreibtisch eine Flasche Cola, daneben ein Glas, mehrere beschriebene Blätter Papier, ein aufgeschlagenes Buch. Das Bett ungemacht, das zur Nordseite gerichtete Fenster gekippt. Sie hatte einen eigenen Fernseher, einen Videorekorder und eine Stereoanlage, ein PC in der Ecke neben dem Fenster. Katrin Laube blieb mit dem Rücken an der Tür stehen.
»Ich darf dich doch duzen, oder?«
Katrin nickte nur.
»Gut. Katrin, ich möchte von dir nur etwas über Selina wissen. Wie gut wart ihr befreundet?«
»Es geht.«
»Was heißt das genau? Wart ihr beste Freundinnen, habt ihr euch öfter gesehen, ich meine außerhalb des Reitclubs?«
»Nein, Selina war nicht meine beste Freundin. Wir konnten uns ganz gut leiden, aber sie hat ihr eigenes Ding gemacht.«
»Ihr eigenes Ding?«, fragte Durant und lehnte sich an den Schreibtisch.
»Na ja, sie war nicht so der Cliquentyp. Sie wollte mehr allein sein. Vor allem in letzter Zeit.« Sie holte ein Taschentuch aus ihrer Jeanstasche und schnäuzte sich die Nase. Sie fing plötzlich wiederan zu weinen und setzte sich aufs Bett, den Kopf in die Hände gestützt.
»Was hast du?«, fragte Julia Durant und setzte sich neben sie. »Ist es wegen Selina?«
Katrin zuckte mit den Schultern, was die Kommissarin nachdenklich werden ließ.
»Du weißt es nicht? Oder willst du es mir nicht sagen?«, fragte sie behutsam weiter.
»Es ist alles Scheiße!«, kam die leise Antwort.
Durant sah Katrin aufmerksam von der Seite an und bemerkte die blauen Flecken an ihrem rechten Oberam. Sie fragte sich, ob sie auch noch an anderen Stellen ihres Körpers Hämatome hatte.
»Was ist Scheiße?«
»Alles. Das mit Selina, das …«
»Das?«
»Nichts.«
»Wo hast du denn die blauen Flecken her? Bist du gefallen?«
Katrin sah die Kommissarin erschrocken an, sprang auf und zog sich einen dünnen Pulli über, obgleich es in dem Zimmer warm war.
»Keine Antwort?«
»Das geht Sie nichts an! Außerdem, was hat das mit Selina zu tun? Sie sind doch wegen Selina gekommen und nicht wegen mir.«
Julia Durant hörte den Hilferuf, wusste aber im Moment nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Die Aussage von Nathalie Weishaupt schien sich immer mehr zu bewahrheiten, und Durant meinte noch die Worte von Gerber in den Ohren zu haben, der gesagt hatte, dass sich hinter den Fassaden der Wohlanständigkeit so manches Drama abspiele. Dies war ein Drama, hoffentlich nur ein kleines.
»Stimmt, ich bin wegen Selina hier. Du warst also nicht ihre beste Freundin, richtig?«
»Nein. Aber wir haben uns trotzdem gut verstanden.«
»Wer war denn Selinas beste Freundin?«
»Nathalie, glaub ich.«
»Nathalie Weishaupt?«
»Hm.«
»Du warst eine der letzten, die Selina am Mittwochabend gesehen hat. Ist dir da irgendwas an ihr aufgefallen?«
»Nee, gar nichts. Sie wollte nur schnell heim. Dabei haben wir doch Ferien.«
»Hatte sie außer Nathalie noch andere Freundinnen?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Komm, setz dich wieder zu mir«, bat Durant. Katrin Laube folgte der Bitte nur zögernd.
»Warum weinst du wirklich? Und woher kommen die blauen Flecken? Du kannst mir vertrauen, ich werde mit niemandem darüber sprechen. Großes Ehrenwort.«
»Das ist doch egal, interessiert doch eh keinen.«
»Doch, mich. Wer hat dich geschlagen?«
Sie schüttelte nur den Kopf.
»Dein Vater?«
Katrin schluckte schwer, keine Antwort.
»Warum hat er’s getan? Kommt so was öfter vor?«
Nicken.
»Und weshalb?«
Schulterzucken.
»Es muss doch einen Grund geben. Ist es wegen Jungs?«
Schulterzucken.
»Hast du einen Freund, den er nicht mag?«
»Er mag überhaupt nichts von dem, was ich mag«, war die leise Antwort, als würde sie befürchten, er könnte vor der Tür stehen und lauschen. Hart und bitter. Zu hart und zu bitter für ein Mädchen ihres Alters, dachte Durant.
»Was magst du denn?«
»Was mag denn jemand wie ich? Das Einzige,
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