Kaltes Blut
einer einsamen Frau zu tun. Sie setzte sich auf das Sofa, Frau Tschierke stellte den Ton des Fernsehers leiser.
»Ja, das mit Selina hat wohl alle sehr getroffen. In Hattersheim passiert so was normalerweise nicht. Und ich wohne immerhin schon seit über zwanzig Jahren hier. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass es hier schon mal einen Mord gegeben hat.«
»Das kann ich nicht sagen, ich bin eigentlich für Frankfurt zuständig, aber mein Kollege wohnt in Okriftel und …« Ich rede wie ein Wasserfall, dabei geht sie das gar nichts an, dachte Durant. »Kannten Sie Selina?«
»Weniger. Miriam ist meist außer Haus und bringt auch keine Freunde mit. So ist das, wenn man allein lebt«, sagte Frau Tschierke mit einem merkwürdigen Unterton, trank ihr Glas leer, füllte den Rest aus der Flasche nach und zündete sich eine Zigarette an. Sie hustete nach dem ersten tiefen Zug. »Und die Kinder gehen ihre eigenen Wege, kaum dass sie flügge geworden sind.«
Julia Durant erwiderte nichts, sie hörte nur noch Katrin Laubes Worte, die gesagt hatte, Miriam dürfe genauso wenig wie sie Freunde oder Freundinnen mit nach Hause bringen. Und jetzt diese Version. Die Version einer verhärmten Frau, die sich am Rotweinglas und Zigaretten festhielt. Dennoch zweifelte sie daran, es mit einer typischen Alkoholikerin zu tun zu haben, dazu wirkte sie zu gepflegt. Sie hatte es schon mit anderen Frauen zu tun gehabt, die an der Flasche hingen und deren Wohnung und auch Äußeresentsprechend aussahen. Meist ungepflegte, fettige, manchmal sogar verfilzte Haare, starker Körpergeruch, kein ästhetisches Empfinden mehr. Nein, dachte sie, die Frau ist nur bitter. Aber möglicherweise ist es bloß noch ein kleiner Schritt bis zum Absturz.
»Wie alt ist Miriam?«, fragte Durant.
»Vierzehn. Sie wird in zwei Wochen fünfzehn. Mein Gott, wenn ich daran denke, als ich fünfzehn war … 1977 war das. Das war noch eine Zeit, nicht zu vergleichen mit heute. Miriam ist ständig unterwegs, ich kann schon froh sein, wenn ich sie mal morgens zu Gesicht bekomme, bevor sie zur Schule geht. In den Ferien kommt sie selten vor elf nach Hause, und ich habe auch keine Lust mehr, mir den Mund fusselig zu reden, dass sie noch zu jung ist, um so lange draußen rumzustreunern. Und jetzt auch noch das mit der Reiterei. Ich weiß bis heute nicht, wie sie auf diese Schnapsidee gekommen ist …«
»Welche Schnapsidee?«
»Na, das mit dem Reiten. Sie hat sich nie für Pferde interessiert, aber irgendwer hat sie mal mitgenommen, und sie muss wohl einen Narren an den Viechern gefressen haben.«
»Sie leben allein mit Miriam?«
Frau Tschierke lachte trocken und gallig auf. »Allerdings. Seit ziemlich genau fünf Jahren lebe ich allein mit ihr.« Sie hob kurz die Hände und verzog den Mund. »Er hat mich einfach sitzen lassen, das heißt, er hat sich eine Jüngere genommen. Und das zu einem Zeitpunkt, als ich gerade zum zweiten Mal schwanger war. Na ja, zum Glück ist die Schwangerschaft schief gelaufen.«
»Sie sind doch selbst noch nicht alt«, bemerkte Durant, ohne weiter auf das Letzte einzugehen. Sie hatte nicht den Nerv, mit einem Ehedrama voll gequatscht zu werden, im Moment hatte sie genug mit sich selbst zu tun.
»Was spielt das für einen Mann schon für eine Rolle?! Je älter sie werden, desto jünger müssen die Frauen sein, das ist doch heutzutage so üblich. Wenn man nur eine Falte hat, wird man doch schon nicht mehr angeguckt. Schauen Sie sich doch nur mal dieReklame an, jung, jünger, kein Gramm Fett, nur dann ist man ›in‹, wie es so schön heißt. Und die Zeit bleibt nicht stehen … Aber das ist mir auch egal. Miriam wird schneller erwachsen, als ich gucken kann.«
Julia Durant hätte ihr zumindest bedingt zustimmen können, sie hatte die Erfahrung ja gerade taufrisch gemacht, doch sie hatte keine Lust auf eine Diskussion über Männer. Außerdem fühlte sie sich nicht sonderlich wohl in der Gegenwart von Miriams Mutter und konnte auch nachvollziehen, wenn Miriam bereits jetzt eigene Wege ging und sich so wenig wie möglich zu Hause aufhielt. Eine verbitterte Mutter, die Trostlosigkeit eines kalten Heims, das Jammern mitanhören zu müssen …
»Frau Tschierke, es tut mir Leid, aber ich muss weiter. Wann denken Sie könnte ich Miriam am ehesten antreffen?«
»Morgen Vormittag. Sie schläft in den Ferien immer bis in die Puppen, vor eins ist sie selten ansprechbar. Ich habe zwar Urlaub, aber sollte ich wider Erwarten nicht da sein,
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