Kaltes Blut
würde, die er zwar schon vor über einem Jahr aufgeben wollte, aber einer inneren Stimme folgend hatte sie ihm mehrmals gesagt, es nicht zu tun. Und gleichzeitig dachte sie, dass sie wohl doch nicht bindungsfähig war. Dazu kam, dass fast alle Männer, denen sie in den vergangenen Jahren seit ihrer Scheidung näher gekommen war, entweder verheiratet oder verlogen bis ins Mark waren oder beides zusammen. Kuhn gehörte zwar weder zur einen noch zur anderen Sorte (auch wenn dann und wann der Gedanke in ihr hochkam, seine beruflichen Aktivitäten könnten auch eine private Komponentebeinhalten), dennoch konnte sie sich immer weniger vorstellen, den Rest ihres Lebens mit ihm zu verbringen.
Sie schüttelte den Kopf, verbannte Kuhn aus ihren Gedanken, schaltete das Radio ein, FFH. Nachrichten. Das übliche Sommerblabla, danach der Verkehrsbericht. Anstatt des unmittelbar folgenden Wetterberichts wurde eine Suchmeldung der Polizei verlesen.
»Und hier noch eine Suchmeldung der Polizei. Vermisst wird seit gestern Abend 22.30 Uhr die fünfzehnjährige Selina Kautz aus Hattersheim-Okriftel. Selina Kautz ist einen Meter fünfundsechzig groß, schlank und hat glattes hellbraunes schulterlanges Haar. Selina ist bekleidet mit einer hellblauen Jeans, einem weißen T-Shirt und weißen Tennisschuhen. Zuletzt war sie mit einem metallic blauen Fahrrad der Marke Herkules von Eddersheim nach Okriftel unterwegs. Sollte jemand Selina Kautz gestern Abend nach 22.30 Uhr gesehen haben oder Angaben über ihren Aufenthaltsort machen können, so wende er sich bitte an die Polizei in Hattersheim oder jede andere Polizeidienststelle.«
Anschließend der Wetterbericht, dem sie aber nicht mehr zuhörte. Julia Durant zündete sich eine Zigarette an, überlegte, ob sie Hellmer anrufen sollte, ließ es aber sein. Der Main-Taunus-Kreis, wozu auch Hattersheim gehörte, zählte seit Anfang 2001 nicht mehr zum Zuständigkeitsbereich der Frankfurter Kripo. Man hatte eine nicht nur in ihren Augen völlig sinnlose Gebietsreform vorgenommen, nach der für sämtliche Kriminaldelikte im Main-Taunus-Kreis jetzt die Kripo Wiesbaden zuständig war. Sie hatte kaum zu Ende gedacht, als ihr Handy klingelte. Frank Hellmer.
»Hi, Julia. Du, ich hab eben einen Anruf von Bergdorf erhalten …«
»Wer ist Bergdorf?«, unterbrach sie ihn.
»Kripo Hofheim. Du kennst ihn, zumindest vom Sehen. Hör zu, da ist ein Mädchen in Okriftel verschwunden …«
»Ich hab’s gerade in den Nachrichten gehört.«
»Okay, dann weißt du ja schon mal, wie sie heißt. Bergdorf hatmich angerufen und gemeint, da ich ja seit einigen Jahren in Okriftel lebe, ob nicht wir statt der Wiesbadener den Fall übernehmen könnten. Er hat auch schon mit Wiesbaden gesprochen, und die hätten nichts dagegen. Ich kenne zwar die Familie Kautz nur vom Sehen, aber ich wollte dich trotzdem fragen, ob …«
Julia Durant konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, was Hellmer zum Glück nicht sah. »Heißt das, wir wären erst mal vom Bürokram entbunden?«
»Kommt drauf an, wie schnell sie gefunden wird. Noch ist sie nur vermisst. Trotzdem müssten wir einigen Leuten ein paar Fragen stellen. Hast du Lust?«
»Das fragst du noch? Klar doch. Aber zum Friseur darf ich vorher noch fahren, oder?«
»Wenn’s unbedingt sein muss«, erwiderte Hellmer ebenfalls grinsend. »Ich hoffe nur, du siehst hinterher wieder einigermaßen menschlich aus.«
»Haha! Also, sagen wir um sieben bei dir? Ich müsste nämlich nach dem Friseur noch kurz nach Hause, mich umziehen und was essen. Ach ja, hast du schon das Protokoll?«
»Was zu essen kannst du auch bei uns bekommen. Und das Protokoll haben mir die Kollegen aus Hofheim eben rübergeschickt.«
»Bis um sieben dann«, sagte sie und drückte den Aus-Knopf.
Aus dem gemütlichen Abend würde nichts werden, aber das machte ihr im Moment nicht das Geringste aus, im Gegenteil, auch wenn das Verschwinden des Mädchens sie sehr nachdenklich stimmte. In letzter Zeit häuften sich in Deutschland derartige Fälle, und nur ein Bruchteil davon konnte bislang aufgeklärt werden. Sie hoffte, die schlimmsten Befürchtungen würden sich nicht bewahrheiten, dass das Mädchen nur abgehauen war, aus welchen Gründen auch immer, und sie irgendwann und irgendwo heil wieder auftauchte. Manche hauten einfach ab und landeten auf dem Strich. Sie hauten ab, weil sie zu Hause nichts als Demütigungen erlitten, einige, weil sie missbraucht wurden, andere, weil sie auf die falschen
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