Kaltes Blut
Versprechungen von irgendjemandemhereinfielen, der ihnen schöne Augen und Komplimente machte, die junge Mädchen gerne hörten. Sie kannte genügend solcher Fälle aus ihrer Zeit bei der Sitte, und die wenigsten der verschwundenen Mädchen und auch Jungs waren einfach aus einer puren Laune heraus abgehauen. Sie hatte aber auch Fälle miterlebt, wo Kinder und Jugendliche verschwunden waren und man entweder nie wieder ein Lebenszeichen von ihnen erhalten hatte oder sie tot aufgefunden wurden, manchmal auf das Scheußlichste zugerichtet. Und sie war schon zu lange bei der Polizei, um sich Illusionen hinzugeben. Zudem sprach ihr Bauch wieder einmal eine eindeutige Sprache, eine, die sie mittlerweile sehr gut verstand. Aber ein Bild würde sie sich erst nach eingehenden Befragungen machen können. Noch handelte es sich nur um eine Vermisstenmeldung.
Donnerstag, 19.20 Uhr
Julia Durant stellte ihren Wagen vor dem Haus der Hellmers ab. Sie wurde bereits von Frank erwartet. Er bat sie ins Haus, Nadine war mit Stephanie im Garten.
»Sorry, aber ich musste nach dem Friseur erst mal duschen, mein ganzer Kragen war voller Haare und das hätte ich nicht ausgehalten.«
»Hallo, Julia«, wurde sie von Nadine begrüßt, die ins Wohnzimmer kam. »Gut siehst du aus. Frank hat mir schon gesagt, dass du beim Friseur warst. Komm, setz dich. Du hast doch hoffentlich noch nichts gegessen?«
»Nee, keine Zeit gehabt, sonst wär’s noch später geworden.«
»Prima, ich hab nämlich für dich mitgedeckt. Was möchtest du trinken?«
»Nur ein Glas Wasser.« Und an Hellmer gewandt: »Hast du das Protokoll griffbereit?«
»Moment, ich hol’s schnell.« Er verschwand im Arbeitszimmerund kehrte wenige Sekunden später zurück. »Hier, steht aber nicht viel drin. Das Foto ist auch dabei.«
Sie überflog die Angaben, die die Eltern von Selina Kautz gemacht hatten, runzelte die Stirn und legte das Blatt auf den Tisch.
»Ganz schöner Mist«, sagte sie. »Einfach so in Luft aufgelöst. Hoffen wir das Beste. Ein hübsches Mädchen.«
»Ich kenne die Mutter«, meinte Nadine Hellmer. »Sie hat einen achtzehn Monate alten Sohn, der mit Stephanie in der Krabbelgruppe ist. Eine sehr nette, wenn auch distanzierte Frau. Ab und zu unterhalten wir uns, aber immer nur über Belanglosigkeiten. Es fällt mir schwer zu glauben, dass Selina wegen irgendwelcher familiärer Differenzen abgehauen ist. Dazu macht mir die Mutter einen zu guten Eindruck.«
»Eindruck! Mein Gott, wenn ich daran denke, wer alles einen guten Eindruck macht.« Julia Durant seufzte auf. »Hinter die Fassade der Leute kannst du nur ganz selten blicken, das weißt du doch selbst. Aber wir werden uns gleich mal mit den Eltern unterhalten und dann weitersehen. Wissen die eigentlich, dass wir kommen?«, fragte sie und sah Hellmer an.
»Nein, ich möchte lieber, dass sie unvorbereitet sind. Du kennst das doch, sobald jemand weiß, dass die Kripo kommt, legt man sich alle möglichen Worte zurecht. Wir können übrigens zu Fuß hingehen, die wohnen nur ein paar Häuser weiter. Und jetzt iss was, sonst fällst du uns noch vom Fleisch«, sagte er grinsend.
»Haha!« Sie nahm eine Scheibe Brot aus dem Korb, bestrich es dünn mit Margarine und legte zwei Scheiben Mortadella darauf. Dazu aß sie eine saure Gurke und ein paar geschnittene Tomaten.
»Was vermutest du?«, fragte Nadine, während sie sich eine Scheibe Brot mit Putenbrust und Tomaten belegte.
»Gar nichts. Ich stelle erst dann Vermutungen an, wenn ich alles weiß.«
»Aber es ist doch seltsam, dass ein fünfzehnjähriges Mädchen einfach so verschwindet. Ich meine, es ist doch so, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.«
»Es verschwinden jeden Tag ein paar hundert Jugendliche, und die meisten davon kehren schon nach wenigen Tagen reumütig zurück. Ich gehe erst mal auch in diesem Fall davon aus. Ein Mädchen mitten in der Pubertät, vielleicht gerade in einer persönlichen Krise, wer weiß«, sagte sie, nahm das Glas Wasser und trank einen Schluck.
»Julia, du wirkst heute irgendwie anders als sonst«, meinte Nadine und sah Julia Durant ernst aus den großen braunen Augen an.
»Wie wirke ich denn?«
»Keine Ahnung. Aber in deinem Kopf rotiert’s schon wieder, stimmt’s? Denkst du an die Fälle der jüngsten Vergangenheit, mit den Kindern meine ich?«
»Die Kinder, die in letzter Zeit verschwunden sind, und ich meine damit die spektakulären Fälle, waren fast alle jünger. Von der kleinen Peggy zum Beispiel fehlt
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