Kaltes Blut
Selina gestanden habe?«, fragte er lachend. »Ich kannte sie, mehr nicht. Wir haben uns ab und zu unterhalten, und das war’s schon.« Er fasste sich an den Kopf und verbesserte sich: »Was rede ich da, ich kannte Selina selbstverständlich recht gut. Sie war eine Persönlichkeit, anders als die andern. Sehr reif und hochintelligent. Mein Gott, so ein junges Leben und so sinnlos kaputtgemacht! Was geht nur in einem Menschen vor, der so etwas tut? Sie als Polizisten müssten doch eine Antwort darauf haben. Ich habe mir in den letzten Tagen den Kopf zermartert, was in diesem Menschen vorgegangen sein muss, als er Selina umbrachte. Warum tut jemand so etwas? Können Sie es mir sagen?« Er ging zur Wand, rückte ein Bild gerade, das seiner Meinung nach schief hing, trat zwei Schritte zurück und schien zufrieden. Danach wandte er sich wieder den Kommissaren zu.
»Es gibt Millionen Gründe, weshalb ein Mensch einen anderen umbringt«, antwortete Durant. »Die Motive sind sehr unterschiedlich, Hass, Neid, mangelndes Selbstbewusstsein, Einsamkeit, fehlende Vater- oder Mutterliebe, oder jemand ist im wahrsten Sinn des Wortes verrückt. Und mit verrückt meine ich krankhaft verrückt. Er weiß nicht, was er tut.«
»Die Frage war auch mehr rhetorisch gemeint«, sagte Kaufmann entschuldigend. »Natürlich weiß ich, dass es unendlich viele Gründe gibt. Trotzdem frage ich mich, was Selina wohl vor ihrem Tod gedacht haben mag. Ob sie wohl wusste, dass sie sterben würde? Was denkt ein so junges Mädchen kurz vor seinem Tod? Was denkt ein Mensch überhaupt vor seinem Tod? Es kommen einem angesichts einer solchen Tragödie mit einem Mal Fragen in den Kopf, die man sich vorher nie gestellt hat. Seltsam, nicht? Es muss erst ein Unglück geschehen, bevor die Menschen aufwachen.«
»Kennen Sie auch ihre Eltern?«
»Natürlich, schließlich sind Peter und ich im Tischtennisverein. Ich möchte jetzt nicht in ihrer Haut stecken. Wenn ich mir vorstelle, da draußen läuft jemand rum, der einfach wahllos Leben zerstört …«
»Herr Kaufmann, wir müssen Sie, wie alle andern auch, fragen, wo Sie in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag zwischen zweiundzwanzig Uhr und drei Uhr und am Donnerstag in der Zeit zwischen Mittag und zwei Uhr am Freitagmorgen sowie in der Nacht von Freitag auf Samstag waren.«
»Das ist nicht Ihr Ernst, oder?«, fragte er zurück und lachte erneut auf. »Ich brauche also ein Alibi. Gut, am Mittwoch war ich bis gegen zehn im Restaurant zusammen mit Herrn Gerber und Herrn Malkow, dann habe ich das Lokal verlassen und bin direkt nach Hause gefahren. Meine Frau kann das bestätigen, ich habe schon geschlafen, als sie kam, weil ich am nächsten Morgen früh raus musste. Und am Freitag war ich im Institut und hinterher noch ein Bier trinken und eine Kleinigkeit einkaufen. Am Abend war ich zu Hause.«
»In was für einem Institut?«, wollte Hellmer wissen. »Es ist das Institute for Global Climate Research oder auf deutsch Internationales Institut für Klimaforschung. Ich bin Klimaforscher.«
»Interessant«, bemerkte Durant, obwohl sie diese Informationbereits von Gerber bekommen hatte. »Und wie ist es um unser Klima bestellt?«
»Gelinde ausgedrückt, bescheiden. Wir bewegen uns auf eine Katastrophe zu, die aber erst unsere Kinder und Enkel richtig erleben werden. Die Sommer werden heißer, die Winter milder, es findet schon seit etlichen Jahren eine Klimaänderung statt. Aber die Herren Politiker tun nichts dagegen. Und dahinter steckt nichts als Profitdenken. Die Wirtschaft diktiert den Politikern, was sie zu tun haben. So ist es, und so wird es immer bleiben.« Kaufmann steigerte sich in einen wahren Erzählrausch. »Letztes Jahr hatten wir ein Symposium, wo sich Klimaforscher aus aller Welt trafen. Wir haben unsere Forschungsergebnisse miteinander verglichen und sind alle zu einem Schluss gekommen – wenn die Menschen so weitermachen, wird es ein gewaltiges Desaster geben. Die Katastrophe ist vorprogrammiert, die Frage ist nur, wann sie mit voller Wucht zuschlägt. Das vergangene Jahrzehnt war das wärmste, seit es Wetteraufzeichnungen gibt, also seit etwa hundertfünfzig Jahren. Wenn wir vor fünf Jahren noch davon gesprochen haben, dass sich die durchschnittliche Welttemperatur in den nächsten fünfzig Jahren um 1,2 bis maximal 3 Grad erhöhen wird, so gehen die neuesten Berechnungen von einem Temperaturanstieg von bis zu 5,6 Grad bis zum Jahr 2100 aus. Sie können sich vielleicht vorstellen, was
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