Kaltes Blut
gesagt, sie sei selbst Patientin und würde auf mich warten, weil ich zu einem Notfall gerufen wurde. Was immer sich auch abgespielt hat, der Mörder muss ohne große Mühe ins Haus gelangt sein.«
»Also eine Vertrauensperson«, murmelte Hellmer nachdenklich. »War Selina ein eher vertrauensseliger Mensch?«
»Nein, eigentlich nicht. Allein auf dem Reiterhof gibt es etliche, mit denen sie überhaupt nicht klarkam und von denen sie sich distanzierte. Aber wir können doch eh nur spekulieren, was in der Nacht abgelaufen ist.«
»Da stimme ich Ihnen allerdings zu«, sagte Durant. »Es gibt aber noch eine Möglichkeit, wie der Täter in die Praxis gelangt sein könnte. Er hatte einen Schlüssel. Wer alles außer Ihnen besitzt einen Schlüssel zur Praxis?«
»Ich habe neben meinem eigentlichen einen Zweitschlüssel in meinem Arbeitszimmer, meine Sprechstundenhilfe hat einen, sonst keiner. Es gibt nur drei Schlüssel.«
»Können wir mal den sehen, den Sie hier haben?«
»Wenn Sie bitte mitkommen wollen.«
Sie folgten Gerber ins Arbeitszimmer, er zog eine Schreibtischschublade heraus, hob ein paar Papiere an und nahm einen Schlüssel in die Hand. Er steckte ihn in die oberste Schublade, drehte ihn, die sich daraufhin öffnen ließ. Neben einigen Stiften befanden sich auch drei Schlüssel darunter.
»Hier«, sagte er, »der ist für die Praxis, der für den Medikamentenschrank und dieser hier für den Karteischrank. Die andern drei habe ich an meinem Schlüsselbund.«
»Halten Sie es für möglich, dass sich jemand einen Nachschlüssel gemacht hat?«
Gerber schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen.«
»Und Ihre Sprechstundenhilfe?«
»Sie meinen Frau Baum? Um Himmels willen, für sie würde ich beide Hände ins Feuer legen. Sie arbeitet seit über zehn Jahren für mich und hat sich nie auch nur das Geringste zuschulden kommen lassen. Und wozu sollte sie jemandem gestatten, einen Schlüssel nachmachen zu lassen? Es gibt keinen Grund dafür. Wir haben ein ausgezeichnetes Arbeitsverhältnis.«
»Geben Sie uns bitte trotzdem ihre Adresse. Wir werden sehen, was sie uns zu sagen hat. Wie alt ist Frau Baum?«
»Ende vierzig.«
»Verheiratet?«
»Verheiratet, drei Kinder. Ihr Mann betreibt eine kleine Autowerkstatt in Hofheim. Hier ist die Adresse …«
Gerber diktierte, Hellmer schrieb mit.
»Dr. Gerber«, sagte Durant, nachdem er geendet hatte, »jetzt habe ich aber doch noch ein paar Fragen. Wo waren Sie gestern tagsüber und am Abend zwischen zwanzig Uhr und heute morgen um zwei?«
»Ich verstehe nicht ganz …«
»Beantworten Sie einfach nur meine Frage. Wo waren Sie gestern bis heute Morgen um zwei?«
»Ich bin morgens um acht in die Praxis gefahren, mein letzter Patient ging gegen halb zwei, danach habe ich mit Frau Baum noch einige Dinge besprochen, habe etwas gegessen und anschließend noch mit zwei Kollegen telefoniert. Es ging um Patienten, die ich an sie überwiesen hatte. Ab fünfzehn Uhr war die Praxis wieder geöffnet, allerdings ausschließlich für Privatpatienten, die sich bei mir einer Psychotherapie unterziehen. Um acht, Viertel nach acht habe ich die Praxis verlassen und bin nach Hause gefahren. Ich habe meine Schwiegermutter abgelöst, die auf unsere Töchter aufgepasst hat, und wollte noch etwas fernsehen, bin aber im Sessel eingeschlafen. Ich weiß nicht mehr genau, wie spät es war, doch meine Frau hat mich geweckt und mir das von Selina erzählt. Danach sind wir zum ersten Mal seit langer, langer Zeit wieder gemeinsam ins Bett gegangen.«
»Und Ihre Frau kann das bestätigen?«
»Natürlich kann sie das. Aber wieso brauche ich für gestern ein Alibi?«
»Weil Selina erst vergangene Nacht getötet wurde. Deshalb.«
»Was sagen Sie da«, entfuhr es ihm, und seine Augen wurden groß, »Selina wurde erst letzte Nacht umgebracht? Heißt das, wer immer sie entführt hat, hat sie fast einen Tag in seiner Gewalt gehabt und somit alles Mögliche mit ihr angestellt?«
»Wir gehen davon aus. Wir wissen jedenfalls, dass der Todeszeitpunkt etwa um Mitternacht liegt.«
»Es ist unbegreiflich. Wer hat ihr das nur angetan?!«
»Dr. Gerber«, sagte Durant und deutete auf das Telefon, »Sie können jetzt Ihre Frau anrufen.«
Freitag, 21.50 Uhr
Was ist los?«, fragte Emily Gerber und ließ ihre Tasche auf den Stuhl fallen. »Wieso sollte ich herkommen? Ich kann Helga und Peter jetzt nicht allein lassen.«
»Frau Gerber, die beiden werden schon klarkommen. Ich möchte mich mit Ihnen unter vier
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