Kaltes Blut
unterdrücken (Julia Durant hatte selten einen Tag erlebt, an dem so viele Menschen auf einmal weinten). Sie atmete schnell, ihre Augen gingen unruhig im Zimmer umher. »Ich habe schon lange gespürt, wie verzweifelt er war, aber er hat eine so perfekte Fassade aufgebaut, dass keiner merkte, wie es in ihm ausgesehen hat. Ich weiß nicht, wie das zwischen ihm und Selina passiert ist, und ich will es im Moment auch gar nicht wissen, aber es muss wohl die pure Verzweiflung gewesen sein, denn mein Mann kann ohne Wärme nicht leben. Und ich habe ihm diese Wärme entzogen, also hat er sie sich woanders geholt. Aber Andreas würde nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun, glauben Sie mir. Er ist der gutmütigste und großherzigste Mann, den ich kenne. Und ich werde zu ihm stehen, ganz gleich, was immer auch kommt … Was habe ichihm bloß angetan?« Und nach einer kurzen Pause: »Jetzt verstehe ich auch, weshalb er gestern Abend so verstört war und nicht schlafen konnte. Er hatte einfach Angst, dass Selina etwas passiert sein könnte …«
»Inwiefern war Ihr Mann gestern Abend verstört?«
»Als ich nach Hause gekommen bin, habe ich ihn auf Selina angesprochen. Aber er hatte es bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gewusst. Mich hat das auch alles ziemlich mitgenommen, und ich habe ihn gefragt, ob ich bei ihm schlafen dürfe. Irgendwann mitten in der Nacht ist er aufgestanden, in die Küche gegangen und hat völlig gedankenverloren dagesessen. Zu mir hat er gesagt, er leide des Öfteren unter Schlafstörungen, aber jetzt weiß ich, es war wegen Selina. Das war wohl alles zu viel für ihn, erst Selina und dann komm ich auch noch und …«
»Frau Gerber, es gibt noch eine Information, die ich Ihnen nicht vorenthalten will – Selina war schwanger.«
Wieder Schweigen und Emily Gerbers große Augen. Dann lachte sie auf und sagte: »Na großartig. Im wievielten Monat?«
»Anfang zweiter Monat.«
»Also wäre das Kind von Andreas gewesen. Ist auch egal. Unsere süße kleine Selina, unser kleiner Engel, wie wir sie früher immer genannt haben. Dass sie sehr reif war, wusste ich ja, aber so reif …«
»Und Sie trauen Ihrem Mann nicht zu, Selina getötet zu haben?«
»Wie oft soll ich es noch sagen, nein! Ich kenne ihn jetzt seit sechzehn Jahren, und ich glaube, nein, ich bin überzeugt, es gäbe für ihn nur einen einzigen Grund, einen Menschen zu töten, wenn nämlich mein Leben oder das unserer Kinder bedroht wäre. Wusste er denn überhaupt von der Schwangerschaft?«
»Er behauptet nein.«
Sie überlegte. »Das ist auch gut möglich. Als wir in Frankreich waren, hat Selina am vorletzten Tag zu mir gesagt, dass ihre Periode mal wieder seit einigen Tagen überfällig sei. Das war bei ihr aber fast normal.«
»Wann haben Sie Ihren Mann gestern gesehen?«
Sie schien mit der Frage nichts anfangen zu können. »Bitte?«
»Sie haben schon richtig gehört. Wann haben Sie Ihren Mann gestern gesehen?«
»Ich kann Ihnen zwar nicht ganz folgen, aber ich habe ihn gestern Morgen kurz gesehen, bevor er das Haus verlassen hat, und dann erst wieder am Abend, als ich vom Hof gekommen bin.«
»Wann war das?«
»So gegen zehn, auf keinen Fall später. Frau Kaufmann war gestern nur kurz auf dem Hof, weil sie zu einem Gestüt bei Königstein fahren musste, um dort ein Pferd zu behandeln. Frau Malkow und ich haben uns eine Weile über Selina unterhalten, dann stießen auch noch einige andere dazu, und deshalb war ich gestern länger auf dem Hof als geplant, denn donnerstags komme ich in der Regel selten später als um acht nach Hause.«
»Und was haben Sie dann gemacht?«
»Wie gesagt, ich kam nach Hause, mein Mann war im Sessel eingenickt, ich habe ihm das von Selina erzählt und … Ich muss jetzt nicht zu sehr ins Detail gehen, oder? Jedenfalls sind wir zu Bett gegangen. Gemeinsam, um genau zu sein.«
»Frau Gerber, ich danke Ihnen. Sie haben mir sehr geholfen.«
»Dürfte ich erfahren, warum Sie mich nach gestern gefragt haben?«
»Ja, sicher. Selina wurde erst gestern Nacht getötet.«
»Das verstehe ich nicht. Und was war vorher?«
»Keine Ahnung. Wir kennen lediglich den ungefähren Todeszeitpunkt und die Todesart, mehr nicht. Nochmals danke.«
»Wofür?«
»Einfach so«, erwiderte Durant lächelnd. »Nichts für ungut, aber ich musste mit Ihnen sprechen, auch wenn ich dabei etwas hart war. Wie fühlen Sie sich jetzt?«
»Wenn ich sagen würde, beschissen, wäre das die Untertreibung des Jahres. Ich will zu
Weitere Kostenlose Bücher