Kaltes Blut
zehn Minuten, biser fertig war. Die Tasche in der Hand, stand er vor ihr und sagte: »Solltest du es dir doch noch anders überlegen, gib mir Bescheid. Ich bin immer für dich da.«
Sie antwortete nichts darauf. Er blieb noch einen Moment stehen, als würde er einen plötzlichen Meinungsumschwung von ihr erwarten, und als dieser nicht eintrat, ging er schließlich zur Tür und zog sie leise hinter sich zu.
Julia Durant atmete ein paarmal tief durch, holte sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank und trank sie in einem Zug leer. In ihr war nicht einmal Trauer, keine Wut, keine Freude, keine Erleichterung, nichts. Sie fühlte sich nur ausgebrannt und leer. Sie musste ihren Akku aufladen, zu sich kommen und finden und ein neues Leben beginnen. Und wenn es bedeutete, für den Rest ihres Lebens allein zu sein. Aber was hatte Gerber vorhin doch gesagt – Veränderung. Den ersten Schritt hatte sie soeben getan. Und sie nahm sich vor, dass dem weitere folgen würden.
Sie ließ sich ein Bad ein, blieb länger als gewohnt im Wasser, das Wohlgefühl trat allmählich ein. Pläne, sie würde Pläne schmieden. Für die Zukunft. Und sie hatte noch die Worte ihres Vaters in den Ohren – Julia, du bist der wichtigste Mensch in deinem Leben. Ja, dachte sie, ich bin der wichtigste Mensch in meinem Leben.
Sie zog die Betten ab, verstaute das von Kuhn im Schrank und bezog ihres neu. Sie legte sich ins Bett, ließ aber die Nachttischlampe brennen, etwas, das sie schon lange nicht mehr gemacht hatte. Sie tat es nicht, weil sie Angst hatte, nein, sondern weil es sie auf eigentümliche Weise an ihre Kindheit erinnerte. Gerber hatte aber auch gesagt, sie lebe zu sehr in der Vergangenheit. Egal, dachte sie, heute leb ich eben noch mal in der Vergangenheit. Schön. Sie hatte die Augen gerade geschlossen, als das Telefon klingelte. Halb zwei. Sie nahm den Hörer ab – Kuhn.
»Julia, ich wollte nur sagen, wenn ich dir wehgetan habe, dann möchte ich mich bei dir in aller Form entschuldigen. Gib mir noch eine Chance, bitte. Ich bin …«
»Nein«, unterbrach sie ihn und legte einfach auf. Keine Kompromisse mehr, dachte sie, drehte sich auf die Seite und schlief kurz darauf ein.
Samstag, 0.55 Uhr
Er fuhr den Wagen in die Garage und ging ins Haus. Alles war ruhig, sie war noch nicht in ihrem Zimmer, sie war noch nicht einmal zu Hause. Er war vorhin kurz auf dem Hof gewesen, nur für eine halbe Stunde, und hatte sie beobachtet. Sie waren gegen Mitternacht aus dem Restaurant gekommen, in dem es heute sehr ruhig zuging, keine Musik gespielt wurde und die Unterhaltungen in einem gemäßigten Ton geführt wurden. Die Trauer schien alle erfasst zu haben, aber ist es wirklich Trauer?, dachte er. Hand in Hand waren sie erst zu den Pferden gegangen, scheinbar unbemerkt von den andern. Und danach in die Sattelkammer, wo dieser eigenartige Geruch herrschte. Die Stelle, von der aus er sie beobachten konnte, war nahezu perfekt, er sah sie, sie konnten ihn aber nicht sehen. Doch was er sah, erregte ihn und stieß ihn gleichzeitig ab – ein Widerspruch, aber diese Welt bestand doch ohnehin aus nichts als Widersprüchen. O Gott, wie verkommen das doch alles ist! Nicht einmal die Nachricht vom Tod eines der Mädchen hält sie von ihrem Treiben ab!
Er hatte es gewusst, ja, er hatte es gewusst. Sie waren skrupellos, verdorben, schlecht bis ins Mark. Und schon die Kleinen fingen damit an. Es war das Ende der Welt, natürlich war es das. Eine degenerierte Gesellschaft, deren einziges Streben die Befriedigung und das Ausleben körperlicher Triebe war. Und deshalb war diese Gesellschaft zum Untergang verdammt. Er verzog verächtlich den Mund, während seine Erregung sich beinahe ins Unermessliche steigerte. Ich schaue ja nur zu, ich mache ja nicht mit, deshalb gibt es einen Unterschied zwischen euch und mir. Warumkönnt ihr nicht wirklich trauern?, dachte er voller Zorn. Am liebsten wäre er zu ihnen gerannt, um ihnen ins Gesicht zu schreien, dass Selina tot ist und sie gefälligst für diesen Tag ihr sündhaftes Tun einstellen sollen. Aber er tat es nicht, denn wenn sie es jetzt nicht begriffen hatten, dann vielleicht beim nächsten Mal. Irgendwann würden sie begreifen und einsehen, wie schlecht ihr Handeln war.
Er dachte nicht mehr an das, was vor noch nicht einmal einer Stunde gewesen war, er dachte nur an den Moment. Die Vergangenheit war passé, was zählte, war allein die Gegenwart. Er würde nie verstehen, warum sie es ausgerechnet an diesem Ort
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