Kaltes Gift
und entzifferte die Nummern, die
auf den roten Aufklebern dieser Anhäufung standen. Es waren alles hohe
Zahlen. Rasch überblickte er den Rest der Übersichtskarte. Nirgends
sonst waren höhere Nummern. Diese Transaktionen waren also die jüngsten.
Dort war sie! Er hatte seine Mörderin aufgespürt!
Er sah sich die Karte hinter den Stickern genauer an. Östlich
und nördlich von London. Die Gegend, die gemeinhin als Tendring
Hundreds bekannt war – eine Bezeichnung, die noch im Namen der
Gemeindevertretung und der Zeitungen fortlebte. Zusammengedrängt um die
Küste herum: Clacton, Frinton, Walton und Leyston.
Er hatte sie! Oder wenigstens wusste er, wo sie war.
Er drehte sich um und schaute in den Raum. »Achtung, alle mal
herhören!«, schrie er, den üblichen Tumult übertönend, und zum ersten
Mal seit langer Zeit waberte in seinem Mund ein Geschmack auf, der
hatte mit sämtlichen bekannten Obst-, Gemüse- oder Fleischsorten nichts
zu tun. Der Geschmack seiner eigenen, brüllenden Stimme. »Es sieht ganz
so aus, als ob unsere Mörderin sich an der Ostküste aufhält, irgendwo
in Essex. Dort haben die jüngsten Finanztransaktionen stattgefunden,
aber keins der bisher identifizierten Opfer hat dort gewohnt. Ich
brauche eine Liste sämtlicher Hotels und Pensionen entlang dieser
Küstenstrecke und im Bereich von, sagen wir, fünfundzwanzig Kilometern
landeinwärts, und ich will wissen, ob die für mehr als zwei Wochen
Zimmer an eine Frau über sechzig vermietet haben. Und ich will es sofort wissen. Bedenken Sie, diese Frau pirscht sich wahrscheinlich
schon an ihr nächstes Opfer ran, während Sie hier arbeiten. Sie
freundet sich mit ihr an, vereinnahmt ihr Leben und bringt so viel wie
möglich darüber in Erfahrung, bevor sie sie vergiftet. Womöglich
schüttet sie gerade jetzt dieses Gift in eine Tasse Tee. Wir dürfen
keine Zeit verlieren. Also, an die Arbeit!«
Während er brüllte, war Emma Bradbury hereingekommen. Als
jetzt jäh wieder Lärm im Einsatzraum losbrach, trat sie zu ihm.
»Es besteht aber doch auch die Möglichkeit, dass eins der noch
nicht identifizierten Opfer ein Haus in dieser Gegend besitzt«, sagte
sie. »Der Mord könnte schon passiert sein.«
»Und durch einen aberwitzigen Zufall könnte ein Meteorit diese
Dienststelle auslöschen«, konterte er, »und trotzdem kommen wir jeden
Tag her. Trotzdem leben wir unser Leben. Wir können nicht planen, was
geschieht oder was nicht geschieht. Wenn wir Glück haben, finden wir
sie. Wenn nicht, dann nicht. So ist das nun mal.«
Sie musterte ihn respektvoll. »Er hat gesagt, Sie geben nie
auf«, sagte sie leise, als entschlüpfe ihr ein verborgener Gedanke.
»Wer hat das gesagt?«
Ihr Gesicht verspannte sich plötzlich. »Ach, niemand«, meinte
sie, »bloß so 'ne Unterhaltung. Kantinengeschwätz.«
Lapslie blickte sie noch einen Augenblick lang an; er ahnte,
dass da etwas im Busch war, war sich jedoch nicht sicher, was das war.
»Okay«, sagte er, »legen wir los. Halten Sie das Team auf
Trab – ich will einen stündlichen Bericht, wie es mit dieser
Liste vorangeht.«
Emma nickte und ging. Noch ehe Lapslie sich in Bewegung setzen
konnte, kam einer der PCs aus seinem Team – Swinerd, glaubte
er – auf ihn zu.
»Ein Anruf vom Chief Superintendent«, sagte er. »Ob Sie rasch
mal zu ihm raufkommen könnten?«
Einem plötzlichen Impuls folgend, ging Lapslie zum Fenster
hinüber. Der Einsatzraum lag im fünften Stock, und er blickte auf den
Parkplatz hinunter. Der stand voller Wagen, wie Polizeibeamte sie
fuhren, wenn sie außer Dienst waren. Sportwagen, Ford Mondeo, Peugeot
406 und Saab 95, alle in unbestimmbaren Farben. Kein Volkswagen, kein
Skoda, kein Mini, und schon gar kein Volvo, den Polizisten gewöhnlich
als Schlachtschiff bezeichneten. Es war wie auf den Parkplätzen der
Autofabriken, die man manchmal vom Zugfenster aus sah; Reihe um Reihe
ähnlicher Wagen, die bis zum Horizont reichten.
Und ein schwarzer Lexus, am Ende einer Reihe geparkt. Der
Motor lief im Leerlauf; Lapslie sah Auspuffgase aufsteigen.
Er blickte sich im Einsatzraum um; ihm war, als ob er sich auf
etwas dubiose Weise verabschiedete. Alle arbeiteten emsig, die Köpfe
gesenkt, die Headsets aufgesetzt, bewegten die Lippen, während sie in
die Mikrofone sprachen. Niemand sah ihn an.
Unbemerkt verließ er den Raum.
Der Lift zu dem Stockwerk, in dem Rouses Büro lag, brauchte
eine Ewigkeit, ehe er kam. Als sich die Tür öffnete, war er leer. Er
war froh. Das
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