Kaltes Gift
Wenn das Böse nicht von vornherein da wäre, dann
hätten sie keinen Ansatzpunkt zum Wirken.«
»Was ich nicht verstehe«, sagte Lapslie, »warum könnt ihr die
nicht einfach festnehmen, sie vor Gericht stellen und sie bestrafen,
wenn sie für schuldig befunden werden. Wozu all dieses
Geheimdienst-Brimborium?«
»Weil einige von ihnen gar nicht entlassen werden sollten«,
sagte Geherty und schaute auf seine Uhr. »Sie wissen doch, wie das ist
in den Gefängnissen. Es heißt, die Kapazitäten würden einigermaßen
ausreichen. In Wirklichkeit haben wir das Fassungsvermögen schon vor
Jahren überschritten. Für jede Person, die in den Knast gesteckt wird,
muss eine entlassen werden. Manchmal tun wir das, indem wir die Strafe
umwandeln oder den Kriminellen eine bedingte Strafaussetzung gewähren,
auch wenn das formal eigentlich gar nicht möglich wäre, aber das löst
das Problem nicht im Entferntesten. Der Knackpunkt sind die
Lebenslänglichen, die das System aus dem Lot bringen. Die Mörder, die
nicht entlassen werden können, entweder, weil es einen öffentlichen
Aufschrei gäbe, oder weil irgendwo irgendein Richter gesagt hat,
lebenslänglich heißt lebenslänglich, und der Minister entweder nicht
intervenieren kann oder will.«
Etwas, das Dom McGinley ihm erzählt hatte, hallte plötzlich in
Lapslies Kopf wider. Etwas über diese Mörderin von Kindesbeinen an,
diese Myra Hindley, die keineswegs an einem Infekt gestorben sei,
sondern unter einer neuen Identität ihr Leben lebte, irgendwo in Wales.
»Also entlassen Sie sie trotzdem«, meinte er bitter.
»Wir müssen. Wir treffen alle Vorsichtsmaßregeln, so gut wir
können, aber wie das Leben eben so spielt. Manchmal geht etwas schief.«
»Und meine Mörderin?«
Geherty sah erneut auf seine Uhr. »Mir läuft die Zeit davon.«
»Befriedigen Sie meine Neugierde. Wer ist sie?«
»Sie sind ihr selbst begegnet. Wissen Sie nicht mehr? Sie
waren damals dem ACPO zugeteilt, um kriminalpsychologische
Persönlichkeitsprofile von Schwerverbrechern zu erstellen. Wir haben
auch erwogen, Ihnen einen Job anzubieten, aber Ihre gesundheitliche
Verfassung hat uns davon abgehalten. Sie haben damals etliche
Lebenslängliche befragt, um zu sehen, ob es irgendwelche
psychologischen Tests gibt, die man anwenden könnte, um vorauszusagen,
ob jemand vermutlich zum Mörder wird oder nicht. Sie haben auch sie
interviewt.«
In seinem Mund der Geschmack von Litschis, fast unmöglich süß
und dekadent, wie etwas, das in Sirup vor sich hingärt …
»Madeline … Poel?«
»Madeline Poel«, bestätigte Geherty.
»Broadmoor. Wie lange … zwanzig Jahre her …«
Er erinnerte sich an eine Frau in mittleren Jahren, klein und
vogelähnlich. Sie war sehr höflich gewesen, sehr altmodisch, und ihre
Stimme hatte nach Litschis geschmeckt. »Das war damals gegen Ende des
Zweiten Weltkriegs gewesen. Ihre Großmutter war wahnsinnig geworden und
hatte Madelines sämtliche Geschwister umgebracht, im Garten ihres
Hauses, hat ihnen mit einer Gartenschere die Finger abgeschnitten und
zugeschaut, wie sie verblutet sind. Madeline hatte nur überlebt, weil
ihre Mutter aus der Fabrik zurückkam, wo sie gearbeitet hat. Die
Polizei wurde gerufen, und während die unterwegs waren, hat Madeline
aus ein paar Beeren im Garten für ihre Großmutter ein Getränk
zusammengebraut. Sie hat ihrer Großmutter gesagt, es sei Sarsaparille,
aber es war etwas Giftiges. Die Großmutter ist gestorben, ehe die
Polizei sie mitnehmen konnte. Alle haben geglaubt, es sei ein Versehen
gewesen und Madeline hätte bloß helfen wollen, aber während der
nächsten paar Jahre hat Madeline sich immer merkwürdiger verhalten, und
zehn oder zwölf alte Frauen im Dorf sind auf genau dieselbe Art und
Weise gestorben. Es war, als habe sie entschieden, alle alten Frauen
seien gefährlich, und sie müsse sie aus dem Weg räumen. Es war die
Logik eines Mädchens, das in den Wahnsinn getrieben worden war, als sie
zugesehen hatte, wie ihre Familie auf schaurige Weise ermordet wurde,
von der Frau, die sie doch behüten sollte. Nach einer Weile hat es dann
jemand spitzgekriegt, und sie wurde verhaftet. Man hat sie nach
Broadmoor geschickt.« Sein Mund wurde von diesem trockenen,
metallischen Geschmack überschwemmt, während seine Stimme lauter wurde.
»Vor fünfzehn Jahren ist sie an einer Herzattacke gestorben –
so jedenfalls stand das in den Zeitungen –, aber sie ist
überhaupt nicht gestorben! Ist es das, was Sie mir sagen wollen?
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