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Kaltes Gift

Kaltes Gift

Titel: Kaltes Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nigel McCrery
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große Ähnlichkeit mit der eingeschrumpften Frau
mit den Armen voller Leberflecken und den ausgebeulten Stützstrümpfen,
zu der sie geworden war, aber noch viel weniger sah sie aus wie Violet,
also konnte es nicht stehen bleiben.
    Violet hielt es eine Weile in der Hand, zögerte, es
loszulassen. Camber Sands, Juli 1953. Das Foto war von dem jungen Mann
aufgenommen worden, mit dem Daisy damals gegangen war. Er hatte in
einer Bank gearbeitet. Sie kannten sich seit zwei Jahren –
›gingen zusammen aus‹, hatte Daisy es genannt –, bis er zum
Militär einberufen wurde. Er hatte versprochen, zu schreiben, aber er
tat es nie.
    Ein anderes Foto stand auf einem Tischchen in der Diele: ein
Farbfoto von einer Gruppe aus vier Damen mittleren Alters, lachend vor
einem Hoteleingang. Es war irgendwann in den achtziger Jahren auf
Mallorca aufgenommen worden; Daisy wusste das Jahr nicht mehr genau.
Susan, Janice und Patricia. Sie hatten eine Weile gemeinsam an den
Kassen eines Supermarktes am Rande der Stadt gearbeitet und
beschlossen, zusammen Urlaub zu machen. Patricia hatte einen Witwer
kennengelernt und fortan den Großteil ihrer Tage und alle ihre Nächte
mit ihm geteilt. Daisy war rasend neidisch gewesen.
    Und dann war da das Hochzeitsfoto auf dem weißen
Melanin-Nachttisch, wo es bestimmt das Erste war, das Daisy beim
Aufwachen sah, und das Letzte beim Einschlafen. Auch in Schwarzweiß,
zwei Menschen in feierlicher Pose. Daisy in einem ausladenden weißen
Kleid, schäumend vor Spitze, mit einem breitrandigen Hut auf dem Kopf,
und neben ihr ein hochgewachsener Mann mit kurzem Haar und Schnurrbart,
steif in einem formellen Cutaway. Sein Name war Peter gewesen, und
Daisy hatte nie ohne Tremolo in der Stimme und Tränen in ihren
wässrigen Augen von ihm sprechen können. Er war ihre große Liebe
gewesen, und er war nach einundzwanzig Jahren Ehe 1979 an einem
Aneurysma gestorben.
    Die Fotos waren alles, was von Daisys Leben übrig geblieben
war, und trotz der Erinnerungen, die Violet stets beim Betrachten
kamen – Erinnerungen, die nicht die ihren waren, aber zu den
ihren wurden –, wanderten die Fotos in die
Mülltonne im Hintergarten. Zum Verbrennen.
    Die Rahmen behielt sie natürlich. Die könnten ein paar Pfund
extra einbringen.
    Nach einem schnellen Bad, um die Schlacken des Tages
abzuwaschen, bezog Violet Daisys Bett mit frischer Wäsche und schlüpfte
nackt zwischen die Laken. Sie lag da, starrte an die Decke und gab den
Kissen und der Matratze Gelegenheit, sich allmählich den Formen ihres
Körpers anzugleichen. Oder vielleicht ihrem Körper zu erlauben, sich,
nachdem Daisy Wilson wer weiß wie viele Jahre hier geschlafen hatte, an
die Mulde zu gewöhnen, die sie im Bett hinterlassen hatte.
    Die Straßenlaterne draußen warf ein orangefarbenes Glühen an
die Zimmerdecke. Das Ticktack des Weckers auf dem Nachttisch tönte laut
und regelmäßig. Irgendwo draußen jaulte eine Katze, dann war es still
bis auf das normale Hintergrundgrummeln des fernen Verkehrs, dem
niemand in der Stadt entgehen konnte.
    Violet spürte, wie ihr Körper nach und nach schlaff wurde, und
während sie Bild auf Bild durch ihre Gedanken huschen ließ, ohne lange
bei ihnen zu verweilen, merkte sie, dass sie das leise Rauschen ihres
Blutes in den Ohren hören konnte, ein Rascheln wie von Wellen, die
sanft auf einen Kieselstrand spülten. Wieder jaulte die Katze, doch
diesmal klang es mehr wie der Schrei einer Möwe, der über den Wellen
dahintrieb, so wie sie auf denWellen
dahintrieb. Der Raum um sie herum wurde dämmerig, und das kalte
orangefarbene Leuchten der Straßenlaterne wurde zum warmen Licht der
untergehenden Sonne vor dem Meereshorizont. Es malte einen glitzernden
Pfad über das Wasser bis zu ihrem dahintreibenden Körper. Dort trieb
sie, allein und ohne Angst, ließ sich von der Strömung weiter und
weiter ins Meer hinaustragen und sich reinwaschen von allem, was sie
getan hatte, ließ sich von ihren Sünden lossprechen, so, wie das Meer
ihr den Schmutz vom Körper wusch. Das Licht verdämmerte, als die Sonne
tiefer und tiefer unter den Horizont tauchte. Finsternis breitete sich
von den Rändern ihres Gesichtsfeldes her aus, und sie schlief ein, ohne
es zu wissen.
    Die nächsten paar Stunden lang blieb Violet in einem langsamen
Kaleidoskop aus Träumen verirrt, tauchte gelegentlich so weit auf, dass
ihr bewusst war, wo sie sich befand, versank dann wieder in all den
Momentaufnahmen und Erinnerungen und suchte in dem

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