Kaltes Gift
bruchstückhaften
Chaos nach einem Sinn.
Sie tauchte aus den Abgründen des Schlafes, in denen sie
einsam durch eine Kunstgalerie voller Porträts von Leuten gewankt war,
die sie nicht kannte, und befand sich nun auf einem Strand aus
Kieselsteinen in allen erdenklichen Schattierungen von Grau und Ocker.
Irgendwo draußen in der Dunkelheit brandeten Wogen auf die Kiesel,
flossen rasselnd zurück, brandeten erneut heran, unermüdlich,
gedankenlos, immer und immer wieder.
Tack.
Verstört fuhr sie herum. Nichts rührte sich. Rings um sie her
erstreckte sich der Kieselstrand. Irgendwo zu ihrer Linken der
skizzenhafte Umriss eines Wellenbrechers, aber das war das Einzige, was
sich an diesem konturlosen Ort abzeichnete.
Tack.
Wieder drehte sie sich einmal um sich selbst. Nichts zu sehen
außer Kieseln und Dunkelheit, nichts zu hören außer den Wellen.
Tack.
Das war vom Boden gekommen, bei ihren Füßen. Sie starrte nach
unten und sah entsetzt, wie sich ein Kiesel bewegte. Rund geschliffen
vom Meer, von dunklem Rot, torkelte er plötzlich auf winzigen Füßen auf
sie zu. Violet wich hastig zurück, schneller, als der Kiesel sich
bewegen konnte. Er hatte winzige Scheren, mit denen er ihr zuwinkte,
und sie hätte schwören können, dass zwischen den Scheren ein winziges
Gesicht saß, ein verhutzeltes kleines Gesicht mit zwei Augen,
eingegraben zwischen gedunsener, runzliger Haut.
Tack. Tack. Tack.
Jetzt hinter ihr. Sie drehte sich erneut, ihre Fersen bohrten
sich in den Kies. Zwei weitere kleine Steine trippelten auf sie zu,
winkten mit ihren winzigen Scheren. Einem hing eine kleine Strähne
grauer Haare zwischen den Augen.
Fassungslos wich sie nach hinten aus.
Etwas bewegte sich unter ihren Fersen.
Tack. Tack. Tack.
Der Kies unter ihr hob und senkte sich. Sie taumelte, schrie
auf, als sie zwischen ihre Scheren fiel, ihre winzigen, winzigen
Scheren …
Violet fuhr aus dem Schlaf, ihr Herz raste, der Atem rasselte
in ihrer Kehle. Das Schlafzimmer war schwarz, bernsteinfarben getönt
von der Straßenlaterne. Tack, tack, tack machte
der Wecker, jeweils ein Tack für zwei Herzschläge.
Sie legte sich wieder hin, entspannte sich nach und nach, bis der
Schlaf sie wieder überwältigte. Ein tiefer, traumloser, anonymer Schlaf.
Wie gewöhnlich wachte sie um halb acht auf. Auf der Straße
draußen war es lebhaft, wie sie es noch nie erlebt hatte. Alle paar
Minuten schloss sich eine Haustür hinter jemandem im Anzug oder im
adretten Kostüm, der zur Bushaltestelle oder zum Bahnhof strebte.
Violet stand am Fenster, in einen von Daisys Morgenmänteln gehüllt. Sie
liebte es, Leute zu beobachten. Ihre unwillkürlichen Grimassen oder
ihre verstohlenen Seitenblicke, wenn sie dachten, keiner sähe es, das
faszinierte sie. Schon immer war das so gewesen, schon seit sie ein
Kind gewesen war.
Ein Mann, noch halb verschlafen, gähnte, als er die Haustür
hinter sich abschloss, hielt sich den Rücken der linken Hand vor den
Mund, während er mit der rechten den Schlüssel drehte. Violet hob
selbst den linken Handrücken an den Mund, berührte mit den Lippen die
Haut, genau so, wie er es tat, zählte stumm die Sekunden, spürte, wie
ihr Atem die feinen Härchen ihrer Haut kitzelte, bis der Mann seine
Hand sinken ließ und sich zum Gehen wandte. Eine Frau auf der einen
Seite der Straße, die eine schmale Aktentasche an einem Riemen über der
Schulter trug, warf verstohlene Blicke auf eine Tür an der anderen
Seite, als hoffe sie, jemand würde herauskommen. Und Violet ahmte diese
Blicke unter halb geschlossenen Lidern nach, ohne es recht zu merken.
Oh ja, sie liebte es, andere Menschen zu beobachten. Noch mehr
aber liebte sie es, sie zu sein.
Ihr Frühstück bestand aus einer Scheibe Toast mit Butter und
einem Klacks Marmelade, dazu eine Tasse Tee – mit Daisys
Teebeuteln gebrüht, nicht mit den Teeblättern, die sie gestern
mitgebracht hatte. Nach dem Frühstück hielt sie ein Streichholz an die
Sachen in der Mülltonne im Hintergarten und machte sich, während sie
brannten, daran, das Haus zu durchsuchen.
Von Grund auf – im wahrsten Sinne des Wortes. Der
Keller hatte seit vielen Jahren kein Licht gesehen. Spinnenweben hingen
von den hölzernen Stützbalken und waren so überladen mit Staub, dass
sie wie graue Chiffonschals aussahen. Außer der Patina aus Kohlenstaub,
die im Licht der nackten Glühbirne glitzerte, gab es für Violet in der
dunklen toten Höhle weiter nichts zu entdecken. Sie stieg nicht einmal
ganz die
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