Kaltes Gift
Treppe hinunter, denn in ihrem Unterbewusstsein lauerte die
Furcht, sie könnte bis an die Knöchel im Kohlenstaub versinken und
nichts anderes hören als das trockene Knacken Tausender von
Insektenkadavern, die sie mit den Sohlen zertrat.
Das Wohnzimmer war altvertrautes Territorium, doch sie
durchsuchte es trotzdem, für den Fall, dass sie während all der Zeit
etwas übersehen hatte. Der Schreibschrank war vollgepackt mit einfachem
Geschirr, Besteck, Gläsern, alten Notenblättern und
Zeitungsausschnitten, die zwanzig Jahre und älter waren. Die
Zeitungsausschnitte warf sie draußen ins Feuer; alles Übrige sah
wertlos aus, konnte jedoch vielleicht irgendwo ein paar Pfund
einbringen. Wenn nicht, konnte sie es immer noch der Wohlfahrt spenden.
Man musste doch das Seine tun, aber zuerst kam das Eigeninteresse.
Die Küche hatte nichts Unerwartetes zu bieten. Violet hatte so
viele Stunden darin zugebracht – hatte den Wasserkessel für
Daisys endlose Tassen Tee eingeschaltet, hatte Kekse aus dem Schrank
geholt (›Pfeilwurz, meine Liebe, das hilft meiner Verdauung‹), hatte
gelegentlich Fischstäbchen gebraten oder bei besonderen Gelegenheiten
mal ein Stück Kabeljau –, sie kannte den Inhalt jedes
Schrankes und jeder Schublade wie die Sommersprossen auf ihrem Arm. Es
gab da ein paar Teelöffel, die es genauer zu untersuchen galt, aber
sonst nichts. Nichts, was ihr einen Zugriff auf Daisys Bankkonto oder
sonstigen finanziellen Nachlass ermöglicht hätte.
Das Esszimmer war nichts anderes als ein Esszimmer: Da stand
der Esstisch und eine Vitrine aus Rosenholz, in der das gute Porzellan
und das feine Silberbesteck verwahrt wurde. Zum Aufbewahren für
Papierkram gab es hier nirgends Platz, trotzdem zögerte Violet an der
Tür, wollte gehen und konnte nicht. Der Esstisch zog sie magisch an.
Der schwarze Esstisch.
Krampfhaft schüttelte Violet den Kopf. Keine Zeit
vertrödeln – die Gelegenheit beim Schopfe packen, wie das alte
Sprichwort besagte.
Rasch ging sie die Treppe hinauf und unterzog das Badezimmer
und das vordere Schlafzimmer – ihr Schlafzimmer –
einer gründlichen Inspektion. Beim Badezimmer dauerte es nicht lange,
doch die Nachtschränkchen enthielten stapelweise Briefe und Postkarten,
die Daisy anscheinend im Bett gelesen hatte. Die legte Violet beiseite.
Sie wusste ja schon alles, was darin stand, dank der endlosen Monologe,
die sie mit Kognak und gelegentlichen schwachen Aufgüssen von Blumen
aus ihrem Garten beflügelt hatte – Namen und Adressen alter
Freunde, Details aus Daisys früherem Leben, die man in eine
Unterhaltung einfließen lassen oder mit denen man von Fragen ablenken
konnte –, doch es lohnte sich, sie durchzublättern, bloß für
alle Fälle. Man konnte nicht vorsichtig genug sein.
Schließlich machte sich Violet an das hintere Zimmer, eine Art
Abstellraum. Früher, als Daisy noch lebte, hatte sie lediglich in der
Tür stehen und sich umblicken können, doch sie war ziemlich sicher,
dass das meiste von Daisys Papierkram hier verwahrt war. Das bisschen
an Papierkram, was Daisy wohl überhaupt besaß. Deshalb hatte sie sich
dieses Zimmer auch bis zum Schluss aufgehoben.
An der Wand stand ein niedriges Rollbett, und Bücherregale
flankierten die Tür, aber Violets Augenmerk galt sofort dem
Schreibtisch, der vor dem Fenster stand. Der Stuhl davor war
komischerweise ein typischer Sekretärinnen-Drehstuhl aus den siebziger
Jahren, das Muster der Polsterung ein psychedelischer Wirbel aus Grün
und Blau. Der Himmel mochte wissen, woher Daisy den hatte –
und vor allem, warum. Mit einigem Widerstreben setzte Violet sich auf
den Stuhl und durchforstete systematisch die Schreibtischschubladen.
Und es war alles da. Unterlagen der Bausparkasse, aus denen
hervorging, dass sich Daisy in der Gewinnzone bewegte, im Bereich von
etlichen Tausend Pfund. Details über Hypotheken – und es
erwies sich als Tatsache, was Violet stark vermutet hatte und hier
bestätigt wurde – dass die Hypothek gelöscht und schon vor
Jahren abbezahlt war. Die Besitzurkunden für das Haus. Die
Versicherungspolice – auf dickem Pergament – war im
Jahre 1930 abgeschlossen worden und würde jetzt vermutlich ein hübsches
Sümmchen abwerfen, wenn Violet es nicht vorzog, Daisy am Leben zu
erhalten – zumindest was den Rest der Welt betraf. Ein paar
Prämienobligationen, die man noch genauer untersuchen, vielleicht
veräußern sollte. Ein paar Aktienzertifikate, höchstwahrscheinlich
geerbt oder von
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