Kaltes Gift
oder zwei der Tische waren
besetzt. An einem nippte eine Frau mittleren Alters, in einen Schal
gehüllt, an ihrem Gin Tonic. Ihr Mann, ziemlich unbequem in einen
korrekten Anzug gekleidet, saß an der anderen Seite des Tisches. Keiner
von beiden sprach. Die Frau starrte in ihr Glas, als enthielte es die
Geheimnisse des Universums, und ihr Mann, fahrig und nervös, schien
immerfort etwas sagen zu wollen, um das Schweigen zu brechen, besann
sich jedoch wohl im letzten Moment, wenn ihm klarwurde, wie banal es
klingen würde.
Daisy ertappte sich dabei, dass sie ihren Dubonnet genau so
hielt wie die Frau dort am Tisch ihren Gin, und sie zwang sich, damit
aufzuhören. So hatte sie sich vorhin schon einmal gehenlassen. Sie
musste die Kontrolle behalten über die, die sie war, sonst würde ihr
alles entgleiten, und sie würde ohne jeden Charakter zurückbleiben.
Eine gesichtslose Fremde, die beständig jede Person nachahmte, die ihr
begegnete.
An einem anderen Tisch saß ein Mann mit einem großen Glas
dunkler Flüssigkeit. Er war stämmig, rot im Gesicht, und hatte mehr
Haare auf den Fingerknöcheln als auf dem Kopf. Eine flache Mütze lag
neben ihm auf dem Tisch. Seiner Art nach einer, der etwas Altmodisches,
Männliches trank, dachte Daisy, so was wie Alt- oder Braunbier.
Sie überlegte kurz, ob sie ihn in eine Unterhaltung verwickeln
sollte, aber sie entschied sich dagegen. Männern stellte sie nie nach:
Es war fast unmöglich, eine Freundschaft zu entwickeln, ohne dass sich
das sexuelle Element einschlich, und dann war da immer die drohende
Sorge, dass sie stärker waren als sie, falls ihre kleinen Gifte nicht
rasch genug wirkten. Außerdem war es natürlich fast unmöglich, ihre
Identität direkt zu übernehmen: Sie würde Umwege ausfindig machen
müssen, um an ihre Hinterlassenschaft zu kommen, wenn sie dahin waren,
und das allein bedeutete ein Extrarisiko bei dem ganzen Unternehmen.
Nein, lieber nicht.
Vornehm leerte sie die letzten Tropfen ihres ziemlich herben
Dubonnets und griff nach Handtasche und Mantel. Ein kleiner Gang durch
die Stadt und dann ins Bett, beschloss sie.
Die Luft draußen war kalt. Über die Straße hinweg sah sie das
Geländer der Strandpromenade, dahinter jedoch, wo vorhin noch der
Strand und das Meer und der Himmel gewesen waren, war jetzt nichts. Ein
schwarzes Nichts, unendlich und leer. Es war, als ob die Welt an jenem
Geländer zu Ende wäre, und ein unvorsichtiger Fußgänger konnte leicht
stolpern und fallen und auf ewig durch den Weltraum wirbeln, bis ans
Ende der Zeit.
Daisy schüttelte sich. Also wirklich, diese Gedanken, die ihr
da in den Kopf kamen! Das ging nicht. Das ging wirklich nicht.
Sie ließ sich von ihren Füßen leiten, ohne zu planen, wohin
sie gehen wollte. Eine Seitenstraße führte von der Strandpromenade weg
tiefer in die Stadt hinein. Sie überquerte eine Straße, die sie für die
Hauptstraße hielt – hauptsächlich von Teenagern bevölkert, die
anscheinend von Pub zu Pub und wieder zurück pilgerten –, und
stieß auf eine weitere Seitenstraße, die von Antiquitäten- und
Raritätengeschäften gesäumt war. Irgendetwas trieb sie weiter, ein
Urinstinkt, eine dunkle Anziehungskraft hin zu etwas, das sie spürte,
ohne es zu sehen. Sie wankte weiter, ließ Schaufenster und Lichter
ineinander verschwimmen.
Bis sie sich vor einer protzig beleuchteten Fassade
wiederfand – überall blaues Neonlicht und gelbe Buchstaben. Es
sah aus, als sei es einmal ein Kino gewesen, jetzt aber wurde es für
eine andere Art von Unterhaltung genutzt.
Bingo.
Soeben war wohl eine Runde zu Ende gegangen, denn eine Horde
Frauen kam die Stufen herab. Einige trugen Jacken, einige Mäntel,
andere bloß tief ausgeschnittene, glitzernde Oberteile und Röcke. Sie
lachten schrill. Sekretärinnen, dachte Daisy
abschätzig. Hinter ihnen kam eine schnatternde Herde älterer Frauen in
langen Mänteln und wollenen Mützen, einzeln oder zu zweit, und
plötzlich war Daisy mit allen Sinnen hellwach. Ihr Mund wurde trocken,
und jedes Detail war plötzlich gestochen scharf wie im
Scheinwerferlicht. Sie roch geradezu das
Lavendelparfüm, liebevoll aus Flaschen aufgetupft, die vor zwanzig
Jahren gekauft worden waren. Sie spürte förmlich
die rauen, handgestrickten Wolljacken und Schals. Und sie sah das verräterische Durchschimmern der Kopfhaut durch das
sorgfältig frisierte Haar. Als sie nach Händchenwinken, Adieus und
kleinen Wangenküsschen getrennte Wege gingen, merkte sich Daisy, in
welche
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