Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kaltes Gift

Kaltes Gift

Titel: Kaltes Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nigel McCrery
Vom Netzwerk:
er
sei Alkoholiker oder psychisch labil. »Gehen wir zum Wagen rüber.«
    Er lehnte sich mit dem Rücken gegen Emmas Mondeo, spürte das
von der Sonne erwärmte Metall tröstlich durch sein Jackett hindurch und
holte tief Atem. Wie am besten anfangen?
    »Hören Sie, Sir –«, sie stand vor ihm, die Hände auf
den Hüften und blickte an ihm vorbei die Straße entlang, »– wenn Sie
darüber reden möchten, gut. Wenn nicht, ist es auch gut. Egal wie, es
bleibt unter uns.«
    Er nickte und atmete tief durch. »Ich habe das schon, solange
ich mich erinnern kann«, sagte er dann ruhig. »Ich habe lange gedacht,
das sei bei jedem so, aber als die Kinder in der Schule anfingen, mich
zu hänseln, und sagten, ich sei verrückt, hab ich aufgehört, darüber zu
reden. ›Der hat ja 'ne Macke‹, haben sie immer gesagt, ›Mark hat 'ne
Macke.‹«
    »Und bei der Polizeiführung wissen sie davon?«
    Er nickte. »Keine Sorge – es sind weder Depressionen
noch eine Psychose oder sonst was. Ich sitze nicht plötzlich in einer
Ecke und schluchze stundenlang vor mich hin. Mein Arzt weiß Bescheid,
aber es gibt nichts, was er dagegen tun kann. Niemand kann was dagegen
tun. Es ist nicht lebensbedrohlich, nicht mal lebensverändernd, oder
sonst irgendwas, das sie zum Eingreifen zwingen würde. Es ist
einfach … ein Teil von mir. Ein Teil von dem, der ich bin.«
    Emma nickte, doch sie sah aus, als wolle sie eigentlich den
Kopf schütteln. »Also – was ist es genau?«
    »Man nennt es Synästhesie. Niemand weiß genau, wodurch es
entsteht, aber es ist, als ob es bei den Nerven im Gehirn irgendwie
einen Kurzschluss gegeben hat. Signale, die auf einer bestimmten Spur
reinkommen, werden irgendwo anders weitergeleitet. Die beste Theorie
ist, dass alles im frühen Kinderalter anfängt. Babys nehmen die Welt
als einen Mischmasch aus Sinneseindrücken wahr, weil ihr Gehirn noch
nicht voll entwickelt ist und sie Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn
noch nicht auseinanderhalten können – das ist alles
durcheinandergemischt. Während das Gehirn sich entwickelt, fangen die
Eindrücke an, sich gegeneinander abzugrenzen. Bei Leuten wie mir findet
diese Abgrenzung wahrscheinlich nicht statt, aus Gründen, die wir nicht
verstehen. Manche Menschen sehen verschiedene Farben, wenn sie Musik
hören. Es gab zum Beispiel mal einen russischen Komponisten namens
Alexandr Skrjabin, der hat verschiedene Noten und Akkorde mit
bestimmten Farbschattierungen verbunden und seine Musik nicht nur
komponiert, damit sie schön klang, sondern, damit sie auch schön aussah – für ihn selbst wenigstens. Andere wiederum können Geschmack
tatsächlich fühlen. Brathähnchen etwa können sich
anfühlen wie scharfe Dornen in den Handballen. Orangensaft kann sich
anfühlen wie weiche Bälle, die über Ihre Kopfhaut rollen.«
    »Sie meinen …« Sie hielt inne, rang nach den
passenden Worten. »Sie meinen, so wie manche Leute sagen, dass sie bei
dem oder jenem ›rot sehen‹? So etwa?«
    »Nein, nicht so. Da benutzen die Leute einfach nur
Vergleiche – ›rot sehen‹, das bedeutet Wut. Nein, das sind
richtige Gefühle.«
    »Halluzinationen?«, fragte Emma stirnrunzelnd. »Das können
doch nur Halluzinationen sein?«
    »Wenn das so ist, dann sind sie sehr konsistent. Dieselben
Dinge rufen immer dieselbe Wirkung hervor.«
    »Und wie ist es bei Ihnen? Lichter oder Gefühle an Ihren
Händen?«
    Er lachte bitter. »Das könnte ich wohl ignorieren. Nein, bei
mir setzen sich bestimmte Laute in Geschmack um. Wenn ich ›Ticket To
Ride‹ von den Beatles höre, dann ist es, als hätte ich gerade in ein
ranziges Stück Schweinefleisch gebissen.«
    Emma brachte ein Lächeln zustande. »Ich dachte immer, so
reagiert jeder auf Paul McCartney.«
    »Ja, aber wenn mein Handy klingelt, dann schmeckt es, als
würde ich Mokka trinken.« Er nickte zu dem Haus hinüber. »Und der Lärm
spielender Kinder löst bei mir immer Vanillegeschmack aus. Manchmal
trifft mich das völlig unerwartet, haut mich einfach um.«
    Emma warf ihm einen Blick zu. »Und da kann man nichts machen?«
    »Nichts. Es bringt mich ja nicht um, und es hindert mich auch
nicht am Arbeiten. Mein Arzt hat Akupunktur vorgeschlagen, was nur
zeigt, wie ratlos er ist, und das neurologische Institut im hiesigen
Krankenhaus ist mehr daran interessiert, mein Gehirn zu studieren, als
eine Therapie zu finden. Also mache ich eben einfach weiter. Die meiste
Zeit macht es ja auch nichts. Ich kann immer noch arbeiten. Es

Weitere Kostenlose Bücher